Cookie löschen

Interview mit Prof. Dr. Dr. Andreas Kruse | Präventionsforum 2025

“Gesundheitsförderung und Prävention sollten unbedingt im Alter fortgesetzt werden“

Wie zeigt sich die Vielfalt gesundheitlicher Situationen im Alter, und in welcher Weise beeinflussen diese Unterschiede das Verhältnis von Gesundheit und Krankheit in dieser Lebensphase? Interview zum Präventionsforum 2025 „Gesund ins Alter - Gesund im Alter: Was braucht es dafür?“ mit dem Gerontologen Prof. Dr. Dr. Andreas Kruse, Universität Heidelberg.

Porträt Prof. Dr. Dr. h.c. Andreas Kruse
© Universität Heidelberg

 

Herr Professor Kruse, wie zeigt sich die Heterogenität von Gesundheit im Alter und inwiefern beeinflusst diese Vielfalt das Spannungsfeld zwischen Gesundheit und Krankheit?

Die Heterogenität zeigt sich sowohl innerhalb einer Person, die sogenannte intraindividuelle Variabilität, als auch zwischen Personen, die sogenannte interindividuelle Variabilität. Wir beobachten auch bei alten Menschen mit akuten und chronischen Erkrankungen vielfach zahlreiche physische Bereiche, die (relativ) frei von Störungen sind. Besonders eindrucksvoll ist, wie viele chronisch kranke alte Menschen ein hohes Maß an seelisch-geistiger Resilienz und Kompetenz zeigen.

Kompetenz möchte ich hier auch im Sinne von Erich Fromm (1900-1980) definieren: Nämlich als die Fähigkeit, wie auch die Bereitschaft, kreativ und produktiv zu sein. Und schöpferische Kräfte zeigen viele alte Menschen - auch jene, bei denen schwere Erkrankungen vorliegen - auf eindrucksvolle Weise. Dies sollte in den öffentlichen Darstellungen von Alter - man spricht auch von Altersbildern - sehr viel stärker betont werden. Damit ist die intraindividuelle Variabilität angesprochen.

Genauso bedeutsam für die Theorie und die - gesellschaftliche, politische - Praxis ist die interindividuelle Variabilität mit Blick auf Gesundheit und Krankheit: Seit mehreren Jahrzehnten werden immer wieder konzeptionell und methodisch anspruchsvolle Studien veröffentlicht, die uns zeigen, wie eng gesundheitliche Belastungen im Alter und auch in vorangehenden Lebensphasen mit dem sozioökonomischen Status des Individuums verbunden sind: Menschen aus niedrigeren sozioökonomischen Statusgruppen weisen im Durchschnitt eine deutlich höhere Anzahl von Krankheiten, somit eine signifikant höhere Morbidität auf als Menschen aus höheren sozioökonomischen Statusgruppen.

Auch bei der Sterblichkeit, also der Mortalität, finden sich derartige Unterschiede: Menschen aus den unteren sozialen Schichten weisen eine bis zu zehn Jahre höhere Mortalität auf als Menschen aus den höheren sozioökonomischen Schichten; sie leben im Durchschnitt zehn Jahre kürzer. Was zeigt uns dies? Es zeigt uns, welche soziale Komponente die Entstehung und der Verlauf von physischen wie auch psychischen und kognitiven Krankheiten zeigt.


Was bedeutet Gesundheit im Alter, insbesondere im Kontext von Salutogenese und dem Altern als lebenslangem Prozess?

Eine vom Begründer der Psychosomatischen Medizin, Viktor von Weizsäcker (1886-1957), getroffene Aussage ist hier hilfreich: Gesundheit ist nicht ein Kapital, das wir nach und nach aufbrauchen, sondern ist ein Zustand, den wir immer wieder neu erzeugen. Diese Aussage ist konzeptionell verwandt mit der von Aaron Antonovsky (1923-1994) entwickelten Theorie der Salutogenese.

Wir beobachten bis in das hohe Alter ein hohes Maß an physischer, neuronaler, funktionaler und psychischer Plastizität, das heißt, an positiver Veränderbarkeit und Gestaltbarkeit unseres gesamten Organismus mit seinen physischen, psychischen und kognitiven Funktionen. Diese Plastizität im Alltag konsequent zu nutzen ist eine bedeutende Aufgabe des Menschen - in allen Lebensaltern. Zudem ist eine stimulierende, motivierende und „ermöglichende" soziale und räumliche Umwelt wichtig, damit dieses Plastizitätspotenzial umgesetzt werden kann.


Welche Rolle spielt Prävention dabei, Gesundheit, Lebensqualität, Autonomie und Teilhabe im Alter zu erhalten oder wiederzuerlangen?

Wir können Gesundheitsförderung und Prävention mit Blick auf die Erhaltung von Gesundheit wie auch die Vermeidung von Krankheiten nicht hoch genug bewerten. Wenn wir auf konzeptionell und empirisch anspruchsvolle Verlaufsstudien blicken, dann lässt sich zusammenfassend konstatieren: Ungefähr 70 Prozent aller Schlaganfälle, ungefähr 55 bis 60 Prozent aller Herzinfarkte, ungefähr 80 Prozent aller Diabetes Typ-II-Erkrankungen könnten durch konsequente Gesundheitsförderung und Prävention vermieden werden.

Und es lässt sich auch bei den Demenzerkrankungen ein erhebliches Präventionspotenzial feststellen, welches vor allem für die vaskulären, also primär gefäßbedingten, Demenzerkrankungen nachgewiesen, welches - wenn auch in deutlich geringerem Maße - auch für neurodegenerative Erkrankungen Gültigkeit besitzt. Und es darf - gerade mit Blick auf die neurodegenerativen Erkrankungen - nicht das Potenzial der umfassenden Bildung - im Sinne einer tertiären Prävention - unterschätzt werden. Denn: In dem Maße, in dem wir durch eine umfassende Bildung hochdifferenzierte neuronale Netzwerke aufbauen, wird eine neurodegenerative Demenz erst später symptomatisch werden.

Zudem gilt: Gesundheitsförderung und Prävention sollten unbedingt im Alter fortgesetzt werden, um den Verlauf von Erkrankungen positiv zu beeinflussen, vor allem, um Folgen von Erkrankungen zu kontrollieren: Man denke nur an die erhöhte Sturzgefahr bei Arthrose, Arthritis, nach Schlaganfall, bei Gebrechlichkeit (Frailty) und Sarkopenie (Abbau von Muskelgewebe aufgrund von Mangelernährung). Ein konsequentes körperliches und kognitives Training - mit hoher funktionaler Komponente - ist hier wichtig und erfolgversprechend.


Wie kann den Herausforderungen des demografischen Wandels durch Demografie-sensible Raumplanung und Raumgestaltung begegnet werden?

Bedeutsam sind hier folgende fünf Komponenten: 1. Barrierefreiheit, sowohl bei der Schaffung von neuem Wohnraum als auch bei Veränderungen im Wohnraumbestand, 2. anspruchsvolle sanitäre Grundausstattung aller Wohnungen (hier ist der Begriff der physiologischen Bauhülle treffend), 3. ausreichende digitale Versorgung aller Wohnungen. Ein Internet-Anschluss ist mit Blick auf Partizipation unerlässlich, 4. Integration in eine anspruchsvolle Dienstleistungs- und Versorgungsstruktur - hier ist ausdrücklich auch die medizinisch-pflegerische Versorgung zu nennen - und schließlich 5. ausreichende Teilhabemöglichkeiten im Wohnquartier.

Zudem sollte sich jede kommunale Administration zur Aufgabe machen, für erhöhte Sensibilität gegenüber Bedarfen und Bedürfnissen von Menschen mit Demenz und Pflegebedürftigkeit zu werben - auch, um jegliche Formen von Diskriminierung zu vermeiden.


Welche Herausforderungen ergeben sich im Bereich Pflege und Pflegebedürftigkeit angesichts der Heterogenität der Lebensrealitäten und des Gesundheitszustands älterer Menschen? Wie kann diesen Herausforderungen effektiv begegnet werden, beispielsweise unter den Aspekten Kultursensibilität oder Diversität?

Wir haben im Jahre 1998 „15 Regeln für gesundes Älterwerden“ aufgelegt; ich hatte die Ehre, diese in enger Kooperation mit der Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V. (BVPG), federführend war hier die ehemalige Geschäftsführerin Dr. Beate Grossmann, zu entwickeln. Mit diesen Regeln - wie wir sie seinerzeit nannten, dabei den Charakter von Empfehlungen im Blick habend - zielten wir nicht nur auf das Verhalten und Handeln alter Menschen, sondern auch auf den Ausbau von Prävention, Rehabilitation, präventiver und rehabilitativer Pflege, Verhalten und Handeln alter Menschen: Damit ist vor allem das Potenzial zur Selbstgestaltung von Entwicklung im Alter gemeint, und dies in den Bereichen Körper, Seele, Geist, Kommunikation, soziale und räumliche Umweltgestaltung.

Mit Blick auf die Prävention und Rehabilitation sollten nicht nur die beiden Leistungsbereiche adressiert werden, sondern auch die präventive und die rehabilitative Pflege. Mir ging es darum, deutlich zu machen, dass die präventive oder Gesundheits-Pflege einen Beitrag dazu leistet, mögliche Risiken für die Selbstständigkeit zu erkennen und zu verringern oder ganz abzubauen. Zudem sollte dargelegt werden, wie sehr die Pflege von ihrer rehabilitativen Orientierung profitiert.

Was das Thema „Diversität“ angeht: Hier ist die Kultursensibilität der Pflege angesprochen, die mit Blick auf die wachsende Anzahl hilfsbedürftiger oder pflegebedürftiger Frauen und Männer ein immer größeres Gewicht gewinnen wird. Diese Kultursensibilität wird dazu beitragen, den kulturellen Fluss, den „cultural flow“, innerhalb und zwischen Gesellschaften und Nationen zu fördern. Das ist ein großartiger zusätzlicher Gewinn!

Die Fragen stellte Kathrin Duhme, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V. (BVPG).


Lesen Sie dazu auch

BVPG-Interview mit Professorin Christina Stecker, SRH University of Applied Sciences Heidelberg/Campus Berlin: „Das Gesundheitsmanagement kann nur so erfolgreich sein, wie es die Unternehmenskultur zulässt“

Gastbeitrag von Dr. Michelle Falkenbach und Dr. Matthias Wismar vom European Observatory on Health Systems and Policies, WHO European Centre for Health Policy in Brüssel: „Mit Health for All Policies gemeinsam zu den Nachhaltigkeitszielen!“

Möchten Sie über Neues und Wissenswertes zu Prävention und Gesundheitsförderung auf dem Laufenden gehalten werden? Hier können Sie unseren monatlich erscheinenden Newsletter bestellen.


Prof. Dr. Dr. Andreas Kruse | Emeritus, Seniorprofessor distinctus, Institut für Gerontologie Ruprecht-Karls-Universität Hei delberg.