Interview mit Prof. Dr. Christina Stecker
„Das Gesundheitsmanagement kann nur so erfolgreich sein, wie es die Unternehmenskultur zulässt“
Das Präventionsforum erörtert in diesem Jahr die Frage „Gesund ins Alter, gesund im Alter – was braucht es dafür?“. Professorin Christina Stecker, SRH University of Applied Sciences Heidelberg/Campus Berlin, spricht über betriebliche Rahmenbedingungen, das Zusammenspiel von Verhältnis- und Verhaltensprävention und die Bedeutung der Unternehmenskultur für einen gut gestalteten Übergang.
Warum ist ein gut gestalteter Übergang in den Ruhestand wichtig – für Beschäftigte und für Unternehmen?
Beim Übergang in den Ruhestand – fachsprachlich auch „Altersfluktuation“ genannt – kann die Weitergabe desjenigen Erfahrungswissens, welches sich nicht in Arbeitsplatzbeschreibungen oder Organisationshandbüchern findet, für die betriebliche Performance und Wettbewerbsfähigkeit äußerst relevant sein – wie übrigens bei jeder Fluktuation.
Durch ein strategisches Kompetenz- und Wissensmanagement können langjährig Beschäftigte Wertschätzung und Anerkennung erfahren, wenn sie ihr implizites, arbeitsplatz- und betriebsspezifisches Wissen etwa in Lerntandems und Mentoring-Programmen weitergeben dürfen. In unseren Demografie-Projekten ist uns häufig begegnet, dass sich die Älteren schon früher über dieses, als positiv empfundene Feedback zu ihrer geleisteten Arbeit gefreut hätten.
Und bei jüngeren Nachwuchskräften kann etwa das Reverse-Mentoring, die Kompetenz- und Wissensweitergabe von Jung zu Alt zur Stärkung der Selbstwirksamkeitserwartung (self-efficacy) beitragen. Umgekehrt können die Älteren erlernte Fähigkeiten und erworbene Kompetenzen mit in die Ruhestandsphase nehmen.
Mit welchen Maßnahmen können ältere Beschäftigte in ihrem Unternehmensaustritt begleitet werden?
Im strategischen Personalmanagement hat sich hierzu der Begriff Training out of the job etabliert. Ganz generell können die älteren Beschäftigten durch ein aktives Offboarding oder Exit-Management unterstützt werden. Ein gut gestalteter Übergang zeichnet sich durch eine vom Unternehmen offerierte, möglichst frühzeitig geplante Übergangsphase in den Ruhestand aus.
Neben der Erfahrungs- und Wissensweitergabe können Coachings, Beratungsangebote und befristete Projekte - gegebenenfalls auch nach dem offiziellen Austritt - Ansatzpunkte sein, um die berühmte „Leere“ durch den Wegfall der Tagesstruktur, der sozialen Kontakte unter Kolleginnen und Kollegen und der Sinnstiftung, die für viele die Arbeit ja durchaus liefert, aufzufangen und neue Perspektiven für den dritten Lebensabschnitt eröffnen helfen.
Gibt es noch weitere Vorteile?
Letztlich kann die Tatsache, dass sich das Unternehmen um seine baldigen Ruheständler kümmert, zur Steigerung der Arbeitgeberattraktivität und des Arbeitsengagement der nunmehr verbliebenen Belegschaft beitragen. Für Unternehmen und auch Verwaltungen ist dieses Employer Branding ein wichtiger Baustein zur Fachkräftesicherung sowie zur Lieferanten- und Kundenloyalität.
Welche Rahmenbedingungen können langfristig die Arbeitsfähigkeit erhalten und die physische, psychische und soziale Gesundheit älterer Mitarbeitender fördern?
Vielen ist das Konzept der Arbeitsfähigkeit des finnischen Instituts für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin rund um Juhani Ilmarinen als systematische Gestaltungsgrundlage für die Organisations- und die Personalentwicklung bekannt. Bildlich wird die Arbeitsfähigkeit im „Haus der Arbeitsfähigkeit“ mit vier aufeinander aufbauenden Stockwerken dargestellt, mit Gesundheit und Leistungsfähigkeit als erstes Stockwerk. Darauf bauen Kompetenz und Erfahrungen im zweiten, Werte, Einstellungen und Motivation im dritten sowie schließlich Arbeit, Arbeitsbedingungen, Arbeitsorganisation und Führung im vierten Stockwerk auf. Eingebettet ist die Arbeitsfähigkeit dabei in einen sozialen, gesellschaftlichen und regionalen Kontext.
Um die Arbeitsfähigkeit zu erhalten, müssen die individuelle Gesundheit, Kompetenzen und Werte sowie Bedürfnisse der Mitarbeitenden an die Ausübung ihrer Arbeit und die arbeitsbezogenen Anforderungen des Unternehmens an die Beschäftigten ineinandergreifen. Dazu gibt es zahlreiche wissenschaftliche Studien, Best-Practice-Beispiele und praktische Empfehlungen von Personal- und Unternehmensberatungen.
Worauf sollte besonders geachtet werden?
Besonders bedeutsam für die physische, psychische und soziale Arbeitsfähigkeit der Beschäftigten ist dabei das dritte Stockwerk des „Hauses der Arbeitsfähigkeit": Werte, Einstellungen und Motivation. Hier müssen die – durch Vorgesetzte direkt spürbare – Führungskultur zur Unternehmenskultur des vierten Stockwerks und letztlich auch zur sozialen Verantwortung des Unternehmens passen. Also dass die ökologischen und sozialen Aktivitäten mit den unternehmerischen Compliance-Richtlinien, Organisationsstandards und der ökonomischen Geschäftstätigkeit übereinstimmen.
Wenn wahrgenommene Dissonanzen zwischen Unternehmenskultur und individuellen Werten und Einstellungen zu psychischer Belastung, Stress und moralischer Bedrängnis führen, wird es kritisch. Insofern kann das betriebliche Gesundheitsmanagement nur so erfolgreich sein, wie es die Unternehmenskultur und -philosophie zulässt.
Angesichts der Chancen der digitalen Arbeitswelt, aber auch der Herausforderungen durch die Digitalisierung und die demografische Alterung, interpretiere ich die „Arbeit“ selbst als eine Ressource und motivationalen Faktor und nicht lediglich als Anforderungen der Arbeit an den Menschen. Zur Förderung der Arbeitsfähigkeit der älteren Beschäftigten gilt es insbesondere, die Arbeitsanforderungen mit den altersbedingt gewandelten Leistungspotentialen, der individuellen Gesundheit, den spezifischen Kompetenzen sowie der Motivation und Wertebasis in Einklang zu bringen.
Die „soziale Verantwortung“ von Unternehmen haben Sie bereits angesprochen...
Ja, genau. Wie wäre es, hier einmal relatives Neuland zu betreten? Wenn die „social responsibility“ des Unternehmens einmal gezielt nach innen, im Kontext der Gesundheitsförderung gedacht wird? In empirischen Studien ist überraschenderweise herausgekommen, dass es viele Schnittstellen zwischen sozialer Verantwortung und dem betrieblichen Gesundheitsmanagement gibt, aber noch (zu) wenig Forschung und insbesondere gelebte Praxis dazu. Dabei ließen sich strategische Potenziale durch eine bessere Integration der beiden bislang organisatorisch getrennten Managementbereiche erschließen. Zum Vorteil für das Unternehmen und die Beschäftigten.
Und wie würde das konkret aussehen?
Woran denken Sie beispielsweise, wenn der Betrieb die Aktion „Mit dem Rad zur Arbeit“ unterstützt? Eine Maßnahme des betrieblichen Gesundheitsmanagements? Oder eher Förderung von Umweltfreundlichkeit und besserem ökologischen Fußabdruck? Ein anderes Beispiel für ein Positiv-Summenspiel zwischen Gesundheitsförderung und ökologischer Verantwortung sind E-Bike-Leasingprogramme für Mitarbeitende. Wohin gehört der Firmenlauf, der mit einer Spendensammlung für ein soziales Projekt einhergeht? Hier zeigt sich, dass eine Kombination mit der sozialen Nachhaltigkeitsdimension und der Gesundheitsförderung über sportliche und gemeinnützige Aktivitäten möglich ist.
Da sich diese Aktivitäten einem vermeintlich unternehmensspezifischen Nutzenkalkül entziehen, tragen sie zur intrinsischen Motivation, Sinnstiftung und Steigerung der Selbstwirksamkeit bei. Und die erworbenen Kenntnisse, Erfahrungen und Kontakte können eine individuelle Hilfe sein, um die nachberufliche Phase zu strukturieren und so den Übergang gestalten helfen.
Welche Rolle spielen Maßnahmen der Verhaltensprävention bei der Unterstützung der Arbeitsfähigkeit und Gesundheit im Übergangsprozess in den Ruhestand?
Von betrieblichen Aktivitäten für gesundheitsgerechte Verhaltensweisen können alle Beschäftigten profitieren. Für die nachberufliche Lebensphase bieten sich Maßnahmen an, die für diese Belegschaftsgruppe alterungsbedingt relevanter sind. Studien belegen aber auch, dass betriebliche Maßnahmen zur Verhältnisprävention vergleichsweise immer noch weniger etabliert sind und zum anderen, mit der Verhaltensprävention Hand in Hand gehen sollten, um die volle Wirkung zu entfalten.
Was ist zu tun, damit sowohl Verhaltens- als auch Verhältnisprävention ihre volle Wirkung entfalten können?
Stellen Sie sich einmal vor, im Unternehmen wären nur die Maßnahmen der Verhaltensprävention für die Beschäftigten sichtbar. Die Wahrnehmung, dass sich an den Verhältnissen, an der Arbeitsorganisation und den Arbeitsbedingungen nichts beziehungsweise kaum merklich etwas ändert, könnte kognitive Dissonanzen auslösen. Wird die Ernsthaftigkeit, zum Wohle der Belegschaft etwas zu verändern, nicht geglaubt, kann die Stimmung unter der Belegschaft schnell umschlagen. Auch das habe ich in meinen Demografie-Projekten schon erlebt.
Gerade bei den Älteren, insbesondere in körperlich herausfordernden Berufen wie in der Pflege oder bei sogenannten Hitzearbeitsplätzen an Schmelzöfen, kann sich so der Eindruck einstellen, lediglich fit bis zum Ruhestand gehalten werden zu sollen. Da stellt sich auch Trotz ein. Die Betroffenen sagen, dass sie „nur“ bis zum frühestmöglichen Austritt durchhalten und für die Rente die Erschwerniszuschläge finanziell „mitnehmen“ wollen. Angebote zum Arbeitsplatzwechsel werden abgelehnt. Und engagierte Beauftragte des betrieblichen Gesundheitsmanagements (BGM) wundern sich, warum Angebote nur spärlich oder von den ohnehin gesundheitlich Aktiveren wahrgenommen werden. Frei nach Wilhelm Busch „gut gemeint ist das Gegenteil von gut“. Da fehlt die Vertrauensbasis und da bin ich wieder bei der Unternehmenskultur und -philosophie, die dem entsprechen muss.
Wie beeinflusst der demografische Wandel die Gestaltung betrieblicher Rahmenbedingungen für ältere Mitarbeitende?
Bei aller, zum Teil pauschalen Kritik: Viele Unternehmen haben die Zeichen der Zeit schon längst erkannt oder spüren, dass sie kreative Maßnahmen ergreifen müssen. Es gibt seit Jahren Angebote seitens der Akteure der Nationalen Präventionskonferenz (NPK) oder des Arbeits- und Sozialministeriums (BMAS) mit Informationsmaterialien, Analysetools und so weiter. Vielleicht lohnt sich ein erneuter Blick auf die Vielfalt an Ideen, die im Laufe der Jahre entwickelt worden sind. Davon ist heute noch vieles richtig und gut, auch wenn sie schon zehn, fünfzehn Jahre alt sind. So wurde 2002 beispielsweise im Kontext der Agenda 2010 von Sozialversicherungsträgern, Sozialpartnern, Bund und Ländern die Initiative Neue Qualität der Arbeit (INQA) gegründet. Und im gleichen Jahr startete auch die gemeinsame Initiative Gesundheit und Arbeit (iga) von Kranken- und Unfallversicherungen.
Wenn demografisch bedingt bei vielen Unternehmen ein großes Augenmerk auf die Rekrutierung von jüngeren Mitarbeitenden gelegt wird, mit Willkommensevents und besonderen Gratifikationen, kann es passieren, dass die im Betrieb vorhandene, ältere Belegschaft aus dem Blick gerät. Und damit knüpfe ich an den bereits besprochenen Aspekt an, nämlich an die Unternehmenskultur und die Bedeutung von Wertschätzung und Anerkennung.
Wie können Mitarbeitende individuell und systemisch unterstützt werden, um mit zusätzlichen Belastungen wie hohen Arbeitsanforderungen oder privaten Herausforderungen – wie beispielsweise die Pflege von An- und Zugehörigen – besser umzugehen?
Familiäre Verpflichtungen lassen sich leider nicht am Werkstor oder der Bürotür abgeben, ebenso wenig wie gesundheitliche Belastungen und altersbedingte Einschränkungen. Hier gilt es, das Potenzial für das „Beziehungsmanagement“ zwischen Betrieb und (älteren) Mitarbeitenden auf- und auszubauen, also sich dem Loyalitäts- und Vertrauensverhältnis als gegenseitige Verpflichtung im Sinne von „Sozialverträgen“ und der Arbeitgeberverantwortung und -abhängigkeit (wieder) bewusst zu werden.
Spielen Menschen in Leitungspositionen eine Schlüsselrolle?
Absolut. Führungskräften und direkten Vorgesetzten kommt eine große Bedeutung zu, da sie unmittelbar Einfluss auf die psychische und kognitive Gesundheit des Einzelnen sowie die Arbeits- und Leistungsfähigkeit des Teams ausüben können. Bedingung ist, dass man sie lässt und sie durch die Unternehmensführung glaubhaft unterstützt werden.
Neben Maßnahmen zur Stärkung der Gesundheitskompetenzen der älteren Beschäftigten und zur Gestaltung gesundheitsförderlicher Bedingungen für den Übergang in den Ruhestand seitens des Betriebes, also der Verhaltens- und Verhältnisprävention, können die Führungskräfte persönliche und individuelle Bedürfnisse für die Work-Life-Balance, Veränderungswünsche bezüglich des Tätigkeitsspektrums oder der Arbeitsaufgaben sowie zu flexiblen Austrittsmöglichkeiten klären, wie befristete Arbeitszeitreduzierung oder flexible Arbeitszeiten. Viele Unternehmen bieten auch systemische Unterstützung durch die Vermittlung von staatlichen und zivilgesellschaftlichen Hilfeangeboten für die privaten Herausforderungen an.
Also, „gesund ins Alter – was braucht es dafür“?
Hier möchte ich die direkten Vorgesetzten zu einem vertrauensvollen Gespräch mit ihren zukünftigen Ruheständlern ermuntern. Denn letztlich sind die Beschäftigten die Expertinnen und Experten ihrer Arbeitsplätze.
Die Fragen stellten Kathrin Duhme und Ulrike Meyer-Funke, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V. (BVPG).
Prof. Dr. rer. pol. Christina Stecker | Seit 2015 Professorin für Volkswirtschaftslehre / Economics an der SRH University of Applied Sciences Heidelberg am Campus Berlin. Die Volkswirtin und Politologin ist bei der Deutschen Rentenversicherung Bund seit 2003 zunächst in der Alterssicherungs- und anschließend in der Rehabilitationsforschung tätig. Hier akquirierte und leitete sie europäische und deutsche Demografie-Projekte zum Active Ageing und Generationenmanagement. Sie ist Trainerin und Ausbilderin für das Arbeitsbewältigungs-Coaching (ab-c ©).