Gastbeitrag von Dr. Michelle Falkenbach und Dr. Matthias Wismar
„Mit Health for All Policies gemeinsam zu den Nachhaltigkeitszielen!“
Warum Gesundheit in jeder Politik eine zentrale Rolle spielen muss - und was wir mit dem Konzept „Health for All Policies“ gewinnen können, erläutern Dr. Michelle Falkenbach und Dr. Matthias Wismar vom European Observatory on Health Systems and Policies, WHO European Centre for Health Policy in Brüssel.
Das Konzept „Health in All Policies“ (HiAP) wurde erstmals 2006 in gesundheitspolitischen Kreisen eingeführt (Stahl et al., 2006). Die Idee ist so einfach wie überzeugend: Alle Sektoren sollen gemeinsam an der Verbesserung der Gesundheit arbeiten - etwa durch eine Stadtplanung, die das Gehen und Radfahren fördert, oder durch Bildung, die Menschen zu informierten Entscheidungen befähigt (Greer et al., 2023).
Weltweit haben Regierungen Strategien verabschiedet, die die Prinzipien von HiAP aufgreifen (Leppo et al., 2013). Doch die Umsetzung ist oft schwierig – insbesondere die Einbindung anderer Politikbereiche. Denn obwohl nahezu alles Auswirkungen auf die Gesundheit hat, sieht sich nicht jeder dafür verantwortlich. Die COVID-19-Pandemie hat dieses Denken teilweise geändert: Regierungen haben ressortübergreifend große Maßnahmenpakete geschnürt, um die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen – wenn die Bedrohung groß genug erschien und Einigkeit über die Maßnahmen herrschte (Greer et al., 2021). Solche sektorübergreifende Kooperationen sollten keine Ausnahme bleiben. Die Herausforderung: Politiken zu gestalten, die sogenannte Co-Benefits generieren – also mehrere Sektoren gleichzeitig voranbringen.
Was sind Co-Benefits – und warum sind sie entscheidend?
Co-Benefits („Kollateralnutzen“) bezeichnen Vorteile einer Maßnahme über mehrere Politikbereiche hinweg. Ein Beispiel: Eine Politik zur Reduktion gesundheitlicher Ungleichheiten bei Kindern kann gleichzeitig Bildungsergebnisse, Arbeitsmarktchancen und politische Teilhabe verbessern (Greer et al., 2024). Es handelt sich also um Win-Win-Strategien, die sektorale Silos überwinden und gemeinsame Fortschritte ermöglichen (Greer et al., 2022).
Von „Health in All Policies“ zu „Health for All Policies“
Um Co-Benefits besser zu nutzen, schlagen Greer et al. (2022) eine Weiterentwicklung vor: „Health for All Policies“ (H4AP). Anders als HiAP, das oft einseitig denkt (Gesundheit profitiert von anderen Sektoren), geht H4AP von einer bidirektionalen Beziehung aus: Gesundheit dient anderen Sektoren – und profitiert zugleich selbst (siehe Abbildung 1). Gesundheit wird zum aktiven Motor gesellschaftlicher Entwicklung.
Abbildung 1: Die Beziehung zwischen Gesundheit und anderen Sektoren (Quelle: Greer SL et al., 2022)
Wie lassen sich Co-Benefits konkret erreichen?
Zwei Wege führen zum Ziel – beide sollten parallel verfolgt werden (Siehe Abbildung 2):
1. Bessere Gesundheit schafft Mehrwert
Ein verbesserter Gesundheitszustand und geringere gesundheitliche Ungleichheiten haben viele direkte, gut dokumentierte Auswirkungen auf andere Nachhaltigkeitsziele (Greer et al., 2022). Die empirische Literatur zeigt Kausalzusammenhänge zwischen Gesundheitsoutcomes und anderen politischen Zielen (Suhrcke et al., 2006; McKee et al., 2009; Stuckler et al., 2009). Dies beeinflusst viele Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals, SDGs) direkt:
- SDG 1 (Armut): Krankheit kann Familien in die Armut treiben – durch hohe Gesundheitsausgaben (Kawabata et al., 2002).
- SDG 4 (Bildung): Gesündere Kinder lernen besser.
- SDG 5 (Geschlechtergleichheit), SDG 1 (Armut), SDG 10 (Ungleichheit): Gesundheitsgerechtigkeit verbessert Bildungs- und Arbeitsmarktchancen von benachteiligten Gruppen.
- SDG 16 (Frieden, Gerechtigkeit): Gesundheit fördert politische Teilhabe und zivilgesellschaftliches Engagement (Constantino et al., 2021).
Abbildung 2: Zwei Wege zur Erreichung von Co-Benefits für andere SDGs (Quelle: Greer SL et al., 2022)
2. Gesundheitspolitik als Hebel für andere Sektoren einsetzen
Gesundheitspolitische Maßnahmen haben nicht nur positive Effekte auf die medizinische Versorgung – sie können auch wichtige Beiträge zu anderen gesellschaftlichen Zielen leisten. Dies betrifft unter anderem die Armutsbekämpfung, Wirtschaftsentwicklung, soziale Gerechtigkeit und sogar den Klimaschutz.
Ein Beispiel: Die Ausweitung der Krankenversicherung in Thailand führte zu einem Rückgang der privaten Gesundheitsausgaben und verringerte sogenannte „katastrophale Gesundheitskosten“ (Limwattananon et al, 2015). Solche Maßnahmen tragen direkt zur Umsetzung der Sustainable Development Goals (SDGs) bei, etwa Keine Armut (SDG 1).
Doch der Einfluss des Gesundheitssektors reicht weiter:
- Arbeitsplätze (SDG 8): Das Gesundheitssystem ist ein bedeutender Arbeitgeber und bietet vor allem Frauen und marginalisierten Gruppen faire Jobchancen (OECD, 2022).
- Innovation und Infrastruktur (SDG 9): Gesundheitswesen fördert lokale Beschaffung, Forschung und Entwicklung – und stärkt die Produktivität durch gesunde Arbeitskräfte.
- Klimaschutz (SDG 13): Der Gesundheitssektor verursacht 3 bis 8 Prozent der nationalen CO2-Emissionen (Dzau et al., 2021). Grüne Reformen im Sektor sind daher essenziell.
Trotz dieser weitreichenden Wirkungen wird das Gesundheitssystem oft noch als reine Konsumausgabe statt als strategische Investition in wirtschaftliche, soziale und ökologische Stabilität gesehen. Ein Umdenken ist dringend nötig – nicht zuletzt, weil der demografische Wandel neue Herausforderungen für Arbeitsmärkte und soziale Sicherungssysteme mit sich bringt.
Key Messages (nach Greer et al., 2024)
1. Perspektivwechsel: von Health in All Policies zu Health for All Policies
Fokus auf die Beiträge anderer Sektoren zur Gesundheit, gleichzeitig Betonung der Co-Benefits für diese Sektoren – so lassen sich Gesundheits- und Nicht-Gesundheitsziele gemeinsam erreichen.
2. Co-Benefits gezielt nutzen, um die SDGs zu erreichen
Co-Benefits eröffnen neue Handlungsspielräume, sind oft notwendig zur Zielerreichung und zeigen die komplexen Ursachen von Gesundheit und Ungleichheit auf.
3. Co-Benefits brauchen politischen Willen
Ideen werden nur durch sektorübergreifende politische Kooperation wirksam. Ohne Einigkeit bleiben viele Ansätze stecken – besonders bei internen Regierungskonflikten.
4. Intersektorale Steuerung stärken
Nur durch eine Governance, die Gesundheit mit Bildung, Umwelt, Verkehr etc. verknüpft, entstehen echte Win-Win-Situationen für alle Beteiligten!
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Dr. Michelle Falkenbach | Technical Officer am European Observatory in Brüssel. Sie arbeitet zu Gesundheitspolitik, Governance, Gesundheitsberufen, und den Nachhaltigkeitszielen (Sustainable Development Goals, SDGs). Zudem ist sie außerordentliche klinische Assistenzprofessorin am Department of Health Management and Policy an der University of Michigan. Dr. Falkenbach hat an der University of Michigan in Ann Arbor im Bereich Public Health mit Schwerpunkt auf Gesundheitspolitik promoviert.
Dr. Matthias Wismar | Programmmanager am European Observatory in Brüssel. Sein Arbeitsschwerpunkt liegt auf Gesundheitspolitik, politischer Steuerung und Governance, Gesundheitsberufen, europäischer Integration, und den Nachhaltigkeitszielen (Sustainable Development Goals, SDGs). Er entwickelt Formate zur direkten Wissensvermittlung wie politische Dialoge, Evidence Briefings und Webinare. Dr. Wismar hat an der Goethe-Universität Frankfurt in Politikwissenschaft promoviert.
Referenzen
Dzau VJ et al. (2021). Decarbonizing the US Health Sector- A Call to Action. New England Journal of Medicine, 385(23):2117-2119.
Greer, S. L., Falkenbach, M., Figueras, J., & Wismar, M. (2024). Health for All Policies. Cambridge University Press.
Greer, S. L., Falkenbach, M., Siciliani, L., McKee, M., Wismar, M., Vissapragada, P., ... & Figueras, J. (2023). Making Health for All Policies: Harnessing the co-benefits of health.
Greer, S. L., Falkenbach, M., Siciliani, L., McKee, M., Wismar, M., & Figueras, J. (2022). From health in all policies to health for all policies. The lancet public health, 7(8), e718-e720.
Greer SL, King EJ, Massard da Fonseca E, Peralta-Santos A. Coronavirus politics: the comparative politics and policy of COVID-19. Ann Arbor, MI: University of Michigan Press, 2021.
Limwattananon S, Neelsen S, O’Donnell O, et al. Universal coverage with supply-side reform: the impact on medical expenditure risk and utilisation in Thailand. J Public Econ 2015; 121: 79-94.
OECD (2022). Health Care Resources: Total health and social employment (https://stats.oecd.org/index.aspx?DataSetCode=SHA accessed on July 24, 2025)
Stahl, T., Wismar, M., Ollila, E., Lahtinen, E., & Leppo, K. (Eds.). (2006). "Health in All Policies: Prospects and potentials." Helsinki: Finnish Ministry of Social Affairs and Health & European Observatory on Health Systems and Policies.
Leppo K, Ollila E, Pena S, Wismar M, Cook S. Health in All Policies: seizing opportunities, implementing policies. Helsinki: Ministry of Social Affairs and Health, 2013.