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Gastbeitrag von Prof. Dr. Raimund Geene

10 Jahre Präventionsgesetz - Bestandsaufnahme und Perspektiven

Am 25. Juli 2015 trat das Präventionsgesetz in Kraft - ein Meilenstein zur Stärkung der Prävention und Gesundheitsförderung in Deutschland. Professor Dr. Raimund Geene, Berlin School of Public Health, beleuchtet Perspektiven für die zukünftige Ausgestaltung und Weiterentwicklung.

Porträt Prof. Dr. Raimund Geene, Direktorium der BSPH, Professur für Gesundheitsförderung und Prävention, ASH
© Gesundheit Berlin-Brandenburg e.V.

 

Das Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und Prävention (Präventionsgesetz - PrävG) von 2015 sollte die Prävention und Gesundheitsförderung finanziell, strukturell und qualitativ stärken sowie die Koordination und Kooperation der Akteure verbessern. Die Ausrichtung des Gesetzes auf gesundheitsförderliche Lebenswelten (Verhältnisprävention über den Setting-Ansatz) und auf die stärkere Zusammenarbeit und Bündelung aller Präventionsakteure stößt bis heute auf breite Zustimmung über alle Expertinnen und Experten sowie aller Berufsgruppen hinweg. Die Implementierung verläuft jedoch bislang unbefriedigend, Kritik bezieht sich v. a. auf die Umsetzung des Kernziels des Gesetzes.

Der Erhalt und die Förderung der Gesundheit sind essenzieller Bestandteil der staatlichen Daseinsfürsorge (Artikel 2, Absatz 2 des Grundgesetzes). Für eine umfassende Gesundheitsförderung und Prävention - im Sinne des Health in and for All Policies-Ansatzes (HifAP) - ist die Einbeziehung aller gesellschaftlichen Akteure notwendig.

Das Präventionsgesetz von 2015 verpflichtet ausschließlich die Sozialversicherungsträger zur Etablierung von Bundes- und Landesstrukturen (Nationale Präventionskonferenz, Bundesrahmenempfehlungen, Landesrahmenvereinbarungen) und nur die Gesetzliche Krankenversicherung und Pflegekassen zur Erbringung vorgegebener finanzieller Leistungen. Andere Akteure sieht das Gesetz allenfalls in beratender Funktion vor (Präventionsforum). Durch den Gestaltungsauftrag an die Sozialversicherungsträger, insbesondere die gesetzliche Krankenversicherung (GKV), wird das System der Gesundheitsförderung und Prävention in seiner Breite (kommunale Träger, zivilgesellschaftliche Akteure) eher eingeschnürt. Sie entscheiden im Sinne des §20 SGB V über die Ausrichtung. Eine gemeinsame Koordinierung oder gar bedarfsorientierte Steuerung findet nur ungenügend statt. Auch auf Landesebene wurden im Zuge der Landesrahmenvereinbarungen kaum Beteiligungsstrukturen geschaffen, die ein Zusammenarbeiten auf Augenhöhe erlauben.

Auch sind die bundesweiten Gesundheitsziele nicht ausreichend einbezogen, obwohl diese im Gesetz - außer dem noch zu ergänzenden Gesundheitsziel „Gesundheit rund um die Geburt“ - explizit als rahmende Elemente gelistet sind.


Novellierung des Präventionsgesetzes

Folgende Aspekte sollten in einer Novellierung des Präventionsgesetzes berücksichtig werden:

  • Aktivitäten in Lebenswelten im Rahmen der §§ 20a und 20b SGB V sollten kassenübergreifend erfolgen. Sie dürfen nicht dem Wettbewerb unterliegen und sich nicht wie bisher auf Settings und Bevölkerungsgruppen mit eher geringen Bedarfen konzentrieren. In den Präventionsbericht wurde überdies deutlich, dass die Aktivitäten in sozial benachteiligten Gebieten deutlich ausgebaut werden sollten. Gleiches gilt für eine gendersensible Ausgestaltung der Angebote. Insbesondere Jungen und Männer aus sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen müssen stärker adressiert werden. Die Angebotsgestaltung muss partizipativ erfolgen.

  • Eine Nationale Präventionskonferenz (NPK) ist zur Steuerung (Governance) gut geeignet, muss jedoch grundsätzlich neu ausgerichtet werden. Künftig sollte die NPK an den gesundheitlich relevanten Fragen der Gesellschaft im Sinne des HifAP ausgerichtet sein und eine Dachstruktur für die zahlreichen sozialräumlichen Handlungsansätze (u. a. ÖGD, PSG III, BauGB/Soziale Stadt, SGBs II, III, V, VI, VII, VIII, IX, XI) bieten. Dafür bedarf es hoher Transparenz und einer breiten Akteurslandschaft (an der Spitze: Politik, Wissenschaft, Patientenvertretung und Zivilgesellschaft). Sie darf nicht auf den Akteurskreis und die institutionellen Logiken der Sozialversicherungsträger beschränkt sein. Insbesondere die fachlich führenden Institutionen (Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit (BIÖG) / BVPG/ Landesvereinigungen für Gesundheit (LVGs) dürfen nicht länger als reine Dienstleister inkorporiert und „verschlissen“ werden, sondern müssen ihrer Kompetenz entsprechend umfassend einbezogen werden. Dabei sollte das bisherige Präventionsforum verbindlicher gestalten werde, mit höherer Sitzungsfrequenz (mindestens halbjährig) und vor- und nachbereitenden Arbeitsgruppen. Die Steuerung sollte - mit einer gestärkten Geschäftsführung durch das BIÖG - eventuell auch in Trägerschaft einer gemeinsamen Stiftung - Gesundheitsförderung und Prävention als gemeinsamen Lern- und Entwicklungsprozess in wissenschaftlicher und evaluativer Begleitung ausrichten.

  • Für eine nachhaltige Verankerung von Gesundheitsförderung und Prävention in den Lebenswelten und als gesamtgesellschaftlicher Ansatz ist ein stärkeres und verbindliches finanzielles Engagement des Bundes und der Länder im Rahmen der föderalen Zuständigkeitsverteilung notwendig. Hier sollte die verpflichtende Einbeziehung der anderen Sozialversicherungsträger einschließlich der Arbeitsagenturen/Jobcenter sowie privater Renten- und Krankenversicherungsträger mit Mindestvorgaben geregelt werden. Auf Landesebene müssen alle relevanten gesellschaftlichen Akteure an der Umsetzung der Landesrahmenvereinbarungen (LRV) beteiligt werden und es ist von allen Partnern der LRV Transparenz über die verausgabten Mittel herzustellen. Hierfür muss der Kreis der Partnerinnen und Partner der LRV erweitert (insbesondere Zivilgesellschaft, weitere Ministerien/Landesbehörden, Wissenschaft, Patientenvertretung) oder verpflichtend Gremien mit breiter Beteiligung und Entscheidungsmacht etabliert werden.

  • Für eine kommunale Steuerung ist es notwendig, dass die Kommunen umfassend an den Aktivitäten der LRV-Partnerinnen und -Partner in den Lebenswelten beteiligt werden. Der „Leitfaden Prävention“ zur Umsetzung von Maßnahmen zur Gesundheitsförderung und Prävention muss in Hinblick auf seine Funktion als steuerndes Instrument reflektiert und angepasst werden. Schwerpunkt sollte sein, gemeinsam mit dem Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) dezentrale Konzepte in den kommunalen Lebenswelten umzusetzen, auch im Sinne einer sich weiterentwickelnden Lernschleife. Dabei sollten die Regelungen des Leitfadens weitgehend entbürokratisiert werden. Auf allen Handlungsebenen sollten Ansätze wissenschaftlicher Begleitforschung gemäß dem Public Health Action Cycle etabliert werden.

Das Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheitsdienst als neuer Schlüsselakteur

Mit der Neuorganisation der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) als BIÖG ergeben sich neue Möglichkeiten für eine verbesserte Steuerung des Präventionsgeschehens. Hier sollte das BIÖG eine zentrale Rolle in der Weiterentwicklung der Gesundheitsziele sowie zur Ausgestaltung des GKV-Leitfadens einnehmen und vor allem die Governance-Funktion der Nationalen Präventionskonferenz stärken.

Gesundheitsförderung und Prävention können als Schlüsselansätze für ein modernes Public Health-System begriffen werden. Daraus ergeben sich die fünf Aufgabenbereiche 1. sozialepidemiologische Daten, 2. Gesundheitskommunikation, 3. Interventionsdurchführung, 4. Methodenentwicklung, Evaluation und Qualitätsentwicklung und 5. Diskursivierung. In allen Bereichen gibt es umfangreiche, aber weitgehend unkoordinierte Aktivitäten der Bundesinstitute (Robert Koch-Institut (RKI) und BIÖG), der Sozialversicherung (insbesondere GKV und NPK), der Zivilgesellschaft und der Wissenschaft. In einer systematischen Betrachtung sollte hier die Bundesgesundheitsberichterstattung beziehungsweise Sozialepidemiologie dem RKI zugeordnet sein, dem BIÖG die Anwendungsforschung, die Qualitätssicherung und die bundesweite Kommunikation und Diskursivierung, den Gesundheitsämtern die regionale Praxis und Aktivierung, der GKV und NPK die Verhältnisprävention in den Lebenswelten, der Wissenschaft die Strategie- und Methodenentwicklung und der Zivilgesellschaft die partizipative Rückkoppelung. Diese komplexe Mehr-Ebenen-Governance zu sichern und zu steuern, sollte dabei eine Schlüsselaufgabe des BIÖG werden.


Kassenübergreifende Verausgabung der Präventionsmittel

Ein überwiegender Teil der Finanzmittel für Gesundheitsförderung und Prävention kassenübergreifend verausgabt werden. Sie dürfen nicht dem Wettbewerb unterliegen und sich nicht, wie bisher, auf Settings und Bevölkerungsgruppen mit eher geringen Bedarfen, aber leichter Erreichbarkeit konzentrieren. In den Präventionsberichten 2019 und 2023 wurde deutlich, dass die Aktivitäten in sozial benachteiligten Gebieten noch zu wenig entwickelt sind und daher stark ausgebaut werden sollten. Gleiches gilt für eine gendersensible Ausgestaltung der Angebote. Insbesondere vulnerable Zielgruppen wie Jugendliche und Ältere aus sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen müssen stärker adressiert werden. Die Angebotsgestaltung muss partizipativ erfolgen. Der Kassenwettbewerb in Lebenswelten führt zu Parallelaktivitäten und einer Konzentration auf frühe Bildungssettings, in der für den Kassenwettbewerb relevante Versichertengruppen erreicht werden können.

Dafür sollte die bisher kaum oder bestenfalls lückenhafte „Soll-Vorschrift“ der kassenübergreifenden Leistungserbringung in eine „Muss-Vorschrift“ geändert.

Die hier vorgeschlagene Regelung entspricht der etablierten gesetzlichen Norm des § 20h SGB V (Förderung der Selbsthilfe); hier konnte durch die Einführung der Gemeinschaftsförderung ein langjähriger Konfliktpunkt weitgehend befriedet werden.

Eine dadurch transparente und rein fachlich ausgerichtete Finanzierung der lebensweltbezogenen Prävention kann eingebettet werden in eine entsprechende Gesamtstrategie, die dann auch im Sinne des HifAP wirken kann.


Lesen Sie dazu auch:

BVPG-Interview mit Präsidentin Dr. Kirsten Kappert-Gonther MdB zum Policy Paper der BVPG: „Gemeinsam für eine gesündere, resilientere und gerechtere Gesellschaft!“

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Prof. Dr. rer. pol. Raimund Geene MPH | Seit 2018 vertritt er die Alice Salomon Hochschule im Konsortium mit der Technischen Universität Berlin und Charité in der Berlin School of Public Health. Dort ist er Mitglied des Direktoriums, zudem ist er stellvertretender Direktor des Europa-Instituts und des Berliner Instituts für Gesundheits- und Sozialwissenschaften (BIGSo). Er ist für die Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e.V. (DAG SHG) beratendes Mitglied der Nationalen Präventionskonferenz. Prof. Dr .Raimund Geene hat Politik- und Gesundheitswissenschaften an der Freien und der Technischen Universität Berlin studiert. Er war ab 1998 Geschäftsführer von Gesundheit Berlin e.V., bevor er 2005 als Professor für Kindergesundheit an die Hochschule Magdeburg-Stendal wechselte.