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Interview mit Dr. Johannes Klein-Heßling

„Psychische Gesundheit ist relevant für unsere gesamte Gesellschaft“

Dr. Johannes Klein-Heßling, Abteilungsleiter Aus-, Fort- und Weiterbildung, Prävention bei der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK), war als Experte in der BVPG-Arbeitsgruppe „Psychische Gesundheit“ tätig. Im BVPG-Interview erläutert er die Handlungsempfehlungen der AG, die Bestandteil des Policy Papers 2025 sind.

Porträt Dr. Johannes Klein-Heßling, Abteilungsleiter Aus-, Fort- und Weiterbildung, Prävention bei der Bundespsychotherapeutenkammer
© BPtK

 

Die Ergebnisse der Studie Health Behaviour in School-aged Children (HBSC) zeigen, dass sich die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in den vergangenen drei Jahrzehnten deutlich verschlechtert hat, die soziale Herkunft spielt dabei eine bedeutende Rolle. 18 Millionen Erwachsene in Deutschland leiden an einer psychischen Erkrankung (Quelle: DEGS-Studie). Psychische Erkrankungen sind die zweithäufigste Ursache für Krankheitstage am Arbeitsplatz und die häufigste Ursache für Frühverrentungen. Über die Hälfte aller psychischen Erkrankungen entstehen in frühen Lebensphasen. (PDF)


Welche Präventionsmaßnahmen halten Sie für wichtig, um die psychische Gesundheit und Resilienz von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen nachhaltig zu fördern? Und welche Veränderungen müssten im Bereich der Prävention und Gesundheitsförderung erfolgen, um der zunehmenden psychischen Belastung von Kindern und Jugendlichen zu begegnen.

Die Bewältigung von Belastungen ist ein Motor der psychosozialen Entwicklung. Kinder und Jugendliche brauchen ein Umfeld, in dem sie lernen können, mit neuen und wachsenden Anforderungen umzugehen und das sie zugleich vor dauerhafter Überforderung schützt. Psychische Gesundheit wird in einem solchen Umfeld besonders dann gefördert, wenn verhältnis- und verhaltenspräventive Maßnahmen ineinandergreifen: Indem Risiken für die psychische Gesundheit verringert und zugleich die individuelle Widerstandskraft – die sogenannte Resilienz – gestärkt wird.

Entscheidend ist, die psychische Gesundheit nachhaltig in den Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen zu fördern: in den Familien, Kindertageseinrichtungen, Schulen, Vereinen und in den (digitalen) Medien, mit denen Kinder aufwachsen und die sie prägen. In der Lebenswelt Schule – um ein Beispiel zu nennen – bedeutet das konkret, psychische Gesundheit nicht nur punktuell über extracurriculare Programme zu thematisieren, sondern sie als Querschnittsaufgabe in das Schulprogramm und letztlich in den Regelunterricht zu integrieren. Wenn Schülerinnen und Schüler nicht nur kognitiv, sondern auch sozial und emotional lernen und dabei die Erwartung entwickeln, Belastungen selbstwirksam bewältigen zu können, sei es aus eigener Kraft oder mit Unterstützung, kann die Schule eine feste Säule für mehr psychische Gesundheit sein.

Ein solcher Präventionsansatz verlangt einen langen Atem und beginnt bereits in der Lehrerausbildung. Dafür braucht es ein abgestimmtes, politikfeldübergreifendes Vorgehen – denn Gesundheitsförderung und Prävention ist eine Querschnittsaufgabe. Das gilt für die gesamte Lebensspanne. Dort wo Menschen leben, lernen, arbeiten soll ihre Gesundheit erhalten und gefördert werden. Die enge Verzahnung verhältnis- und verhaltenspräventiver Maßnahmen in den Lebenswelten ist für Menschen jeden Alters entscheidend.

Universelle Maßnahmen allein reichen jedoch nicht aus, um psychische Gesundheit umfassend zu fördern. Spezifische Angebote sind vor allem für vulnerable Gruppen wichtig. Auch sollten Früherkennungsuntersuchungen dazu beitragen, individuellen Unterstützungsbedarf frühzeitig zu erkennen, um etwa geeignete präventive Gruppenprogramme zu ermöglichen oder in die Regelversorgung zu vermitteln. Klar ist aber auch, trotz bester Gesundheitsvorsorge kann jeder Mensch psychisch krank werden.


Übergewicht, Bewegungsmangel, hoher Medienkonsum und eine beeinträchtigte psychische Gesundheit stehen in enger Wechselwirkung. Warum ist der Ansatz Health IN and FOR All Policies so bedeutsam?

Die Rahmenbedingungen für Übergewicht, Bewegung und Medienkonsum in der Bevölkerung werden von vielen Politikfeldern mitgestaltet, wie beispielsweise von der Gesundheits-, Bildungs- Familien-, Sozial-, Verkehrs-, Landwirtschafts- und Wirtschaftspolitik. Wie gesundheitsförderlich unsere Umgebung gestaltet ist oder ob wir die Ressourcen haben, uns selbst lange gesund zu halten, wird nicht primär von der Gesundheitspolitik beeinflusst. Der Ansatz „Health In and FOR All Policies“ berücksichtigt die gesundheitlichen Auswirkungen politischer Entscheidungen aller Ressorts auf die Gesundheit. Er sucht nach Synergien zwischen dem Erhalt und der Förderung von Gesundheit und der Vermeidung negativer gesundheitlicher Auswirkungen auf die Gesundheit durch politische Entscheidungen. Um die Potenziale dieses Ansatzes voll auszuschöpfen, muss die sektorale Fragmentierung überwunden werden. Weil psychische Erkrankungen nicht selten mit sozialen Determinanten wie Armut, Diskriminierung und Isolation einhergehen, sollte „Health IN and FOR All Policies“ in Bezug auf psychische Gesundheit insbesondere auch diese sozialen Determinanten adressieren und so zur Förderung gesundheitlicher Chancengerechtigkeit beitragen.

Die Herausforderung besteht darin, Maßnahmen zu identifizieren, die für alle beteiligten Politikfelder einen Mehrwert bieten – etwa durch Maßnahmen, die dazu beitragen, gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen, individuelle Lebensperspektiven zu stärken und zugleich dem Fachkräftemangeln entgegenzuwirken. Dass das Ziel der Gesundheitsförderung nicht grundsätzlich priorisiert wird, zeigt sich beim Ringen um ein Alkoholwerbeverbot zur Senkung riskanten Alkoholkonsums. Insbesondere mit Blick auf den Schutz von Kindern und Jugendlichen ist ein solches Werbeverbot innerhalb der Gesundheitspolitik wohl unstrittig.


In der BVPG-Arbeitsgruppe „Psychische Gesundheit“ waren Sie als Experte beteiligt. Die Arbeitsgruppe empfiehlt im BVPG-Policy Paper die Fortführung der vom Robert Koch-Institut (RKI) im Jahr 2023 begonnenen Mental Health Surveillance. Warum ist die Weiterentwicklung der Mental Health Surveillance notwendig?

Die Datenlage zur psychischen Gesundheit in Deutschland weist erhebliche Lücken auf. Ohne eine kontinuierliche Fortsetzung und Weiterentwicklung der bestehenden Erhebungen drohen bereits geschlossene Datenlücken neu aufzubrechen – und bestehende Defizite bleiben bestehen. Ohne eine gesicherte fortlaufende Datengrundlage tappen wir bei der aktuellen Lage der psychischen Gesundheit der Bevölkerung und seiner Determinanten also weiter oder wieder im Dunkeln.

Ein regelmäßiges Monitoring zum gesamten Spektrum der psychischen Gesundheit – von subklinischen Stadien bis hin zu ausgeprägten schweren psychischen Erkrankungen, altersübergreifend und lebensphasenspezifisch, ist die Basis, um Prävention und Versorgung wirkungsvoll weiterzuentwickeln. Nur auf dieser Grundlage können die Folgen von gesellschaftlichen Entwicklungen und politischen Entscheidungen für die psychische Gesundheit im Sinne eines „Mental Health In and FOR All Policies“-Ansatzes evidenzbasiert bewertet werden. Zudem lassen sich so verlässliche Indikatoren für ein Frühwarnsystem entwickeln, das drohende Versorgungskrisen rechtzeitig erkennen lässt. Das ist wichtig, weil verschiedene Entwicklungen und multiple Krisen auch die psychische Gesundheit zunehmend belasten, wie die COVID-19-Pandemie, die Klimakrise, Kriege, Inflation, eine zunehmend digitale Welt und wachsende soziale Ungleichheit. Während Mental-Health-Surveillance-Initiativen international fest etabliert sind, hat Deutschland hier deutlichen Nachholbedarf. Ein Abbrechen der begonnenen Aktivitäten würde diesen Rückstand weiter vergrößern.

Für einen nachhaltigen Nutzen braucht es jetzt zwingend Kontinuität bei der Datenerhebung, -analyse und Berichterstattung. Ein weiterer wichtiger Schritt ist, die Mental Health Surveillance in das übergeordnete Surveillance-System für nicht-übertragbare Krankheiten zu integrieren, um Deutschland auf künftige Herausforderungen im Bereich der psychischen Gesundheit vorzubereiten. Die Fortführung der Mental Health Surveillance ist somit keine Option, sondern eine gesundheitspolitische Notwendigkeit, um die psychische Gesundheit der Bevölkerung langfristig schützen und fördern zu können.


Die BVPG-Arbeitsgruppe fordert zudem, die Zuständigkeit für psychische Gesundheit auf Bundesebene sichtbarer zu verankern sowie eine intersektorale Zusammenarbeit der Akteure im Handlungsfeld Prävention und Gesundheitsförderung. Welches konkrete Ziel wird damit verfolgt?

Neben dem Aufbau einer fundierten Datengrundlage zur psychischen Gesundheit und der Verankerung der psychischen Gesundheit als Querschnittsthema in allen politischen Entscheidungsprozessen bemängelt die Arbeitsgruppe die komplexen, teilweise wenig koordinierte und insgesamt unzureichende Finanzierung von Präventions- und Gesundheitsförderungsprogrammen. Durch bessere Vernetzung auf Basis gesicherter Daten, wie im BVPG-Policy Paper gefordert, sollen Synergien geschaffen und Ressourcen effizienter eingesetzt werden.

Zentrale Aufgabe ist die Stärkung der gesundheitlichen Chancengerechtigkeit. Marginalisierte Bevölkerungsgruppen sind häufig multiplen Risikofaktoren ausgesetzt und profitieren gleichzeitig weniger von Präventionsangeboten. Durch koordinierte, intersektorale Ansätze sollen diese Ungleichheiten wirksamer abgebaut werden. Da gesellschaftliche Entwicklungen und politische Entscheidungen über komplexe Pfade die psychische Gesundheit beeinflussen, verspricht eine abgestimmte sektorübergreifende Herangehensweise eine effektivere Reaktion auf bestehende Herausforderungen und antizipiert Folgen.

Psychische Gesundheit ist relevant für unsere gesamte Gesellschaft. Wenn psychische Gesundheit ganz oben auf die politische Agenda gesetzt wird, erhält das Thema eine stärkere Sichtbarkeit und gemeinsames Handeln wird vorangetrieben. Ein erster, ausdrücklich zu begrüßender Schritt ist das Vorhaben der Koalition aus CDU/CSU und SPD, mit einer Strategie „Mentale Gesundheit für junge Menschen“ einen solchen sektorübergreifenden Ansatz für Kinder und Jugendliche zu implementieren. Dieser Plan muss jetzt zügig und erfolgreich umgesetzt werden. Das kann die Blaupause auch für andere Zielgruppen sein, um die gesamte Bevölkerung in den Blick zu nehmen. Wünschenswert wäre in diesem Zusammenhang ein eigener Schwerpunktbereich im Bundesinstituts für Öffentliche Gesundheit.



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Dr. Johannes Klein-Heßling | Abteilungsleiter Aus-, Fort- und Weiterbildung, Prävention bei der Bundespsychotherapeutenkammer in Berlin. Bis 2005 wissenschaftliche Tätigkeiten an den Universitäten Münster, Marburg sowie der Humboldt-Universität zu Berlin in den Bereichen Entwicklungspsychologie, Pädagogische Psychologie und Gesundheitspsychologie mit Fokus auf die Prävention und Gesundheitsförderung im Kindes- und Jugendalter; Diplom-Psychologe.