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Interview mit Prof. Dr. Andreas Seidler

„Mehr Health in all Policies für die Bedarfe junger Erwachsener!“

Im BVPG-Interview zum Präventionsforum 2024 erläutert Prof. Dr. Andreas Seidler, Direktor des Instituts und Poliklinik für Arbeits- und Sozialmedizin der Technischen Universität Dresden, wie der Übergang von der Schule in die Ausbildung gesundheitsförderlich gestaltet werden kann.

Porträt Prof. Dr. Andreas Seidler, Direktor des Instituts und Poliklinik für Arbeits- und Sozialmedizin der TU Dresden
© Stephan Wiegand, TU Dresden

 

Welche Rolle spielt die Schule für einen gelingenden Übergang von Schulabgängerinnen und Schulabgängern in die Ausbildung?

Schule ist sehr stark auf den Schulabschluss ausgerichtet. So wichtig dieser ist: Wenn der Schulabschluss erreicht ist, geht es den Schülerinnen und Schülern zwar in aller Regel zunächst besser - auch gesundheitlich. Doch auf die Zeit danach sind viele Schülerinnen und Schüler - und oft auch deren Eltern - nicht gut vorbereitet. Der „Zeit danach“ sollte in der Schule eine hohe Bedeutung zukommen. Elterlicher Rat hat in diesem Alter sicher für viele Schulabgängerinnen und Schulabgänger nicht die höchste Priorität.

Schule hingegen kann ein entscheidender Gelingensfaktor für den Übergang sein, wenn sie durchlässig ist für „nachschulische“ Themen, wenn sie grundlegende Lebens- und Gesundheitskompetenzen vermittelt, wenn sie individuell und differenzierend auf die Schülerinnen und Schüler eingeht und wenn sie die Schülerinnen und Schüler „mitnimmt“.


Wie müsste denn eine Schule beschaffen sein, die ihre Schüler ideal auf den Übergang in die Berufsausbildung bzw. ins nachschulische Leben vorbereitet?

Hiermit haben wir uns im Präventionsforum 2024 intensiv beschäftigt. Im Ergebnis unserer lebhaften interprofessionellen Gespräche haben wir folgende Merkmale einer „idealen“ Schule formuliert:

  1. Die ideale Schule ist eine inklusive Schule: Seit 2009 ist in Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention in Kraft. Auf die Schule bezogen bedeutet dies, dass alle Schülerinnen und Schüler mit ganz unterschiedlichen Begabungen, kulturellen Hintergründen und Sprachkenntnissen, persönlichen Eigenheiten und Behinderungen gemeinsam und selbstbestimmt lernen und sich damit gegenseitig bereichern.
  2. Gelingen kann dies nur, wenn Schülerinnen und Schüler in einem differenzierten Unterricht individuell gefördert werden. Frontalunterricht muss hier im Hintergrund stehen.
  3. Am besten gelingen kann dies in einer gemeinschaftlichen Schule für alle, nicht in einer zwei- oder dreigliedrigen Schule.
  4. Eine hohe Partizipation der Schülerinnen und Schüler am schulischen Alltag gewährleistet, dass Schule nicht zum Selbstzweck wird, sondern vielmehr ein selbstbestimmtes Leben in der Schulzeit und darüber hinaus ermöglicht.
  5. All dies kostet Geld: Neben Lehrkräften braucht es Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, Psychologinnen und Psychologen, Erzieherinnen und Erzieher, Gesundheitspädagoginnen und Gesundheitspädagogen, Schulhelferinnen und Schulhelfer, usw. und auch Räumlichkeiten, die eine differenzierende inklusive Schule erlauben.
  6. Und nicht zuletzt: Schule muss gut vernetzt mit den betrieblichen und öffentlichen Lebenswelten sein, und Schule muss gut vernetzt mit Hilfesystemen sein.

Was sind Schlüsselstrategien, um besonders vulnerable Jugendliche wirksam zu erreichen?

Neben einer sozial benachteiligten Lage führen auch individuelle Problemlagen von Jugendlichen zu einem erschwerten Übergang von der Schule in das Berufsleben. Hierzu zählen psychische Beeinträchtigungen, ADHS, emotional-soziale Schwierigkeiten, Lernstörungen, Suchtverhalten und familiäre Problemlagen. Bereits in der Schule können sich Probleme wie Schuldistanz oder Vermeidungsverhalten bemerkbar machen - hier müssen Lehrkräfte sofort und konsequent tätig werden.

Wichtig ist diesbezüglich eine enge Kooperation von Jugendamt und Schule, um die Familien frühzeitig zu unterstützen. Diese Jugendlichen sind es oft, die dem Übergang ins Berufsleben nicht gewachsen sind. Wenn es nicht gelingt, besonders „vulnerable“ Jugendliche rechtzeitig zu erreichen, kann dies zu Überforderung, zu Krisen, zu Ausbildungsabbrüchen und zu Gesundheitsschäden führen.

Welche Strategien können helfen? Eine Schlüsselstrategie besteht - neben der Stärkung inklusiver Schulen - in aufsuchenden, wohnortnahen Hilfen. Internationale Forschungsergebnisse zeigen: Individuelle Vermittlung und Begleitung kann junge Erwachsene mit instabilen Ausbildungsverläufen wirksam unterstützen. Hilfen müssen gut zwischen den verschiedenen Akteurinnen und Akteuren abgestimmt sein: zwischen Schule, Jugendamt, Beratungsstellen, Gesundheitsämtern, medizinischer und psychologischer Unterstützung und Versorgung, Agentur für Arbeit, Jobcenter, Sozialhilfeträgern, Beratungsstellen, Sozialverbänden, ... Und um die jungen Erwachsenen nicht schnell wieder zu „verlieren“, sollten diese Hilfen längerfristig angelegt und nachhaltig sein.

Besondere berufsfördernde Einrichtungen wie z. B. Berufsbildungswerke können wichtige individuelle Hilfen für „vulnerable“ Jugendliche bieten. Von entscheidender Bedeutung ist, dass diese gut mit den notwendigen Hilfesystemen sowie medizinischen und psychologischen Angeboten vernetzt sind. So können die Problemlagen dieser Jugendlichen adäquat bearbeitet werden, und der Übergang in das Berufsleben kann nachhaltig gelingen. Wünschenswert und sinnvoll ist bei diesen Jugendlichen - besonders wenn sie an Maßnahmen der beruflichen Reha teilnehmen -, dass die Eltern miteinbezogen werden.


Welche regulatorischen Rahmenbedingungen sind förderlich für eine erfolgreiche Bewältigung und positive Gestaltung von (biografischen) Übergängen? Was sind hemmende Faktoren?

Aktuelle Forschungsergebnisse zeigen, dass die Grundlage für eine erfolgreiche Bewältigung und positive Gestaltung von biografischen Übergängen, insbesondere auch für einen stabilen Ausbildungsverlauf, schon sehr früh im Leben gelegt wird: Die Bildung und die soziale Lage der Eltern bestimmen zu einem hohen Grad den Erwerbsverlauf ihrer Kinder. Gesundheitliche Ungleichheiten nehmen beim Übergang ins Erwachsenenalter deutlich zu.

Erfolgreiche Bedingungen für einen gelingenden Übergang ins Berufsleben werden nicht nur in Schule und Ausbildungsbetrieb geschaffen, vielmehr hängt ein erfolgreicher Übergang wesentlich von der Steuerpolitik, von Umweltbedingungen, von den Wohnverhältnissen, von der Familienpolitik, von der Bildungspolitik und der Gesundheitspolitik ab. Kurzum: Wir benötigen eine Berücksichtigung der Gesundheit - und hier immer und besonders auch der Gesundheit junger Erwachsener - in allen gesellschaftlichen Bereichen. Wir benötigen „Health in all Policies“ mit einem besonderen Blick auf die Bedarfe und Bedürfnisse junger Erwachsener.


Welche gesundheitlichen Folgen und welche Folgekosten hat ein belastender Übergang von der Schule in die berufliche Ausbildung?

Es drohen insbesondere psychische Erkrankungen, darunter auch Abhängigkeitserkrankungen. Es drohen aber auch - teilweise vermittelt über ein gesundheitsgefährdendes Verhalten als Folge des belastenden Übergangs - körperliche Erkrankungen: Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems, der Atemwege, des Muskel-Skelett-Systems.

Ein belastender, erfolgloser Übergang ins Berufsleben hat nicht nur akute Folgen. Vielmehr können langfristige „Narben“ entstehen - bis hin zu einem Teufelskreis von fehlgeschlagenem Einstieg ins Berufsleben, daraus resultierenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen und damit verbundenen weiteren Erschwernissen, im Berufsleben Fuß zu fassen. Letztlich droht Arbeitslosigkeit bis hin zur Erwerbsunfähigkeit. Die Folgekosten sind erheblich und beziehen sich auf unmittelbare Sozialleistungen, auf Maßnahmen und Leistungen zum Lebensunterhalt und zur Teilhabe am Arbeitsleben, aber auch auf die Gesundheitsversorgung.

Darüber hinaus gehen dem Sozialversicherungssystem auch Einnahmen und dem Arbeitsmarkt Fachkräfte verloren. Perspektivisch können weitere Belastungen und somit auch Kosten durch negative Auswirkungen auf die Erwerbsbiographie und Gesundheit folgender Generationen entstehen.


Was muss in Zukunft getan werden, damit Prävention und Gesundheitsförderung bei Übergängen von der Schule in die Ausbildung (noch) wirksamer werden können?

Die Bedeutung eines gelingenden Übergangs von der Schule in die Berufswelt ist eigentlich allen bewusst. Diesem Bewusstsein müssen Taten folgen - und diese Taten kosten Geld. Wir müssen althergebrachte Gewohnheiten überdenken, die soziale und gesundheitliche Ungleichheit fixieren, wenn nicht verstärken: erforderlich ist nicht zuletzt ein gemeinschaftlich organisiertes, inklusives und differenzierendes Schulsystem. Dieses muss gut vernetzt mit Hilfesystemen sein.

Der öffentliche Raum ist von hoher Bedeutung für einen gelingenden und gesundheitsförderlichen Übergang in Ausbildung. Hier können Runde Tische und Gesundheitskonferenzen helfen, die zunächst datenbasiert Bedarfe und Bedürfnisse ermitteln. Auf dieser Grundlage können dann in partizipativen Ansätzen, insbesondere mit aktiver Beteiligung der jungen Erwachsenen, schwerpunktmäßig verhältnispräventive Maßnahmen entwickelt werden.

Dazu zählen:

  • mehr hochwertige öffentliche Räume wie Grün- und Sportflächen,
  • ausgeweitete Möglichkeiten, prosoziales Engagement zeigen zu können, und mehr Anerkennung für ein solches Engagement,
  • Regulierung von sozialen Medien,
  • Verbot von Werbung für potenziell gesundheitsschädigende Produkte, „Zuckersteuer“,
  • gesundheitsförderliche betriebliche Lebenswelten mit Angeboten speziell für Auszubildende.

Die Fragen stellte Ulrike Meyer-Funke, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V.


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BVPG-Interview mit Christina Kruse, Fachreferentin bei der Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen Bremen e.V. (LVG & AFS) und Workshop-Leitende des Präventionsforums 2024 zum Übergang von der Kita in die Schule: „Durch einen gesunden Übergang von der Kita in die Schule entwickeln Kinder Resilienz.“

Informationen zum Präventionsforum 2024 finden Sie hier.

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Prof Dr. med. Andreas Seidler, MPH | Facharzt für Arbeitsmedizin und Epidemiologe. Seit 2015 Direktor des Instituts und Poliklinik für Arbeits- und Sozialmedizin der TU Dresden und Studiendekan des Masterstudiengangs Gesundheitswissenschaften/Public Health. Zuvor Wissenschaftlicher Leiter bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA). Präsident der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP). Wissenschaftlicher Leiter der arbeitsmedizinischen Weiterbildungskurse und Leiter des Ausschusses Arbeitsmedizin der Sächsischen Landesärztekammer. Mitglied des Ärztlichen Sachverständigenbeirats Berufskrankheiten beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BAMS) und der Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe (MAK-Kommission) der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG).