Interview mit Christina Kruse
„Durch einen gesunden Übergang von der Kita in die Schule entwickeln Kinder Resilienz“
Das Präventionsforum 2024 widmete sich dem Thema „Gesund aufwachsen“. Christina Kruse, Fachreferentin bei der Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen Bremen e.V. (LVG & AFS) und Workshop-Leitende des Präventionsforums, erläutert, wie der Übergang von der Kita in die Schule erfolgreich gestaltet werden kann.
Welche Kompetenzen benötigen 5- bis 6-jährige Kinder für einen gelingenden Übergang von der Kita in die Schule?
Der Übergang von der Kita in die Schule ist zwar nicht der erste Übergang in der kindlichen Biografie – aber dennoch ein ganz entscheidender, weil er durch die Schulpflicht der erste formale (Bildungs-)Übergang im Lebenslauf ist. Kitakinder werden zu Schulkindern – und diese Veränderung spüren sie in vielerlei Hinsicht. Er bringt Herausforderungen mit sich – individuell, auf der Beziehungsebene und im Umfeld.
Der 13. Kinder- und Jugendbericht hat vor vielen Jahren schon die zentralen Entwicklungsthemen für 3- bis 6-Jährige und 6- bis 12-Jährige aufgeführt, die auch für den Übergang eine gute Orientierung bieten. Kinder entwickeln und verfeinern zunächst ihre Sprache, ihre Motorik und erlernen das Miteinander in der Gruppe. Mit zunehmendem Älterwerden gehen sie engere Beziehungen ein, eignen sich die weitere Umgebung und ihr Bild von der Welt an und bewähren sich in immer herausfordernden Situationen.
Weil so viele Entwicklungsthemen in der Altersgruppe rund um den Übergang Kita-Schule anstehen, würde ich also nicht unbedingt von Kompetenzen sprechen. Das könnte den Eindruck erwecken, ein Kind sei fertig für die Schule oder eben nicht. Vielmehr geht es um Handlungsüberzeugungen oder Bewältigungsstrategien: Selbstwirksamkeit ist hier das Schlüsselwort, also die Überzeugung darüber, schwierige oder herausfordernde Situationen gut meistern zu können.
Ebenso wichtig wie der Blick auf das einzelne Kind ist aber auch die systemische Perspektive: Was müssen die Institutionen Kita und Schule sicherstellen, damit alle Kinder – ganz unabhängig von ihrem Entwicklungsstand, ihren familiären Voraussetzungen und insbesondere ihrer sozio-ökonomischen Herkunft – gut und gesund „ankommen“ in der Schule?
Für viele Menschen, insbesondere von Armut betroffene oder bedrohte, sind Übergänge im Lebenslauf mit besonderen Risiken verbunden: Es können Brüche und Lücken entstehen, die weitere Benachteiligungen bzw. Chancenungleichheiten nach sich ziehen. Was sind Schlüsselstrategien, um diese Eltern und/oder An- und Zugehörige von Kindern im Kita-Alter wirksam zu erreichen?
Sie sprechen einen wichtigen Aspekt an, nämlich den der aktiven Einbindung und Beteiligung der Eltern und Familien beim Übergang Kita-Schule. Kitakinder werden nicht nur Schulkinder. Kitaeltern werden eben auch Schuleltern. Und auch für sie ist die systemische Perspektive die ausschlaggebende: Wenn ich das Kind in den Mittelpunkt stelle mit seinen Bedürfnissen nach Sicherheit, Geborgenheit, nach Bindung, Beziehung und nach Bildung bedeutet es, dass die Systeme Kita und Schule ganz aktiv, eben moderierend, die Eltern in den Übergangsprozess einbinden müssen.
Die Frage „Was brauchen Sie, damit Ihr Kind gut in der Schule ankommt?“ ist ebenso zentral wie die Fragen an das Kind: „Was wünscht du dir? Worauf freust du dich? Was macht dir Sorgen? Was wirst du vermissen?“. Ein ehrliches Interesse am Gegenüber und seiner Situation ist also die Grundvoraussetzung.
Welche Rahmenbedingungen und Verhältnisse in Kita und Schule sind förderlich für eine erfolgreiche Bewältigung und positive Gestaltung von (biografischen) Übergängen? Was sind hemmende Faktoren?
Blickt man theoretisch auf das Thema Übergang Kita-Schule, so zeigt sich eine Vielzahl von Publikationen, die jeweils aus der Blickrichtung einer der beteiligten Gruppen beschreibt, was wichtig ist. In der Praxis verstärkt sich dieser Eindruck, denn häufig existiert keine gemeinsame, aktive Übergangsgestaltung durch Kita UND Schule UND weitere Beteiligte des professionellen Systems, sondern eine Aneinanderreihung von gut gemeinten Aktivitäten und bürokratischen Formalitäten: Schulanmeldung, Schuleingangsuntersuchung, Entwicklungsgespräch, Tag der offenen Tür, schulvorbereitende Aufgaben, Abschiedsfest, Einschulung und und und. Trotz dieser vielen wichtigen Momente erleben Kinder und Familien den Übergang häufig als Bruch – weil Beziehungen nicht peu à peu aufgebaut werden, Bezugsmenschen „wegbrechen“, wichtige Informationen verloren gehen.
Dass dies so ist, liegt in der Regel nicht am mangelnden Willen der Beteiligten, sondern an knappen Ressourcen. Für die aktive Übergangsgestaltung braucht es in erster Linie also Zeit und Raum insbesondere in den professionellen Systemen Kita und Schule; aber auch in der Kommune, die eine ganz entscheidende Steuerungsverantwortung für die dort lebenden Kinder und Familien und deren Übergänge hat.
Für die Nennung der hemmenden Faktoren könnte ich die Gegenfrage stellen: Was muss ich tun, damit der Übergang Kita-Schule ganz und gar nicht gelingt? Mit einer drastischen Antwort: Nicht miteinander sprechen. Keine Fragen stellen. Mich nicht für die Blickrichtung des Kindes, der Eltern, der Fachkraft aus der Kita oder der Schule interessieren.
Was muss in Zukunft getan werden, damit Prävention und Gesundheitsförderung bei Übergängen von der Kita in die Schule (noch) wirksamer werden können?
Ich bin immer wieder erschrocken darüber, dass Gesundheitsförderung und Prävention als isolierte Einzelthemen missverstanden werden, auch in Bildungsinstitutionen. Ist das der Fall, wird die gelingende Übergangsgestaltung als belastende Zusatzaufgabe verstanden, die einmalig abgearbeitet und nicht prozessual in den pädagogischen Alltag eingebettet wird. Insofern lohnt sich hier – auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen – der Blick auf die Systeme.
In unserem Workshop auf dem Präventionsforum 2024 bestand ganz klar Konsens darüber, dass ein „gelingender Übergang“ von der Kita in die Schule – wie die pädagogische Fachwelt es formuliert – gleichzusetzen ist mit einem „gesunden Übergang“. Denn wenn Kinder diesen Übergang meistern, entwickeln sie Resilienz – das hilft ihnen wiederum für den Umgang mit weiteren Herausforderungen, die das Leben mit sich bringt. Vor diesem Hintergrund haben die Teilnehmenden unseres Workshops wichtige Forderungen herausgearbeitet, die eine systematische Übergangsgestaltung unterstützen würden:
- Es müssen Mindeststandards für den Übergang entwickelt werden, die die Perspektive aller Beteiligten - also insbesondere die der Kinder, der Eltern sowie der Fachkräfte aus Kita und Schule berücksichtigen. Ein gelungenes Beispiel kann hier das „Berliner Modell" zur schrittweisen Eingewöhnung in die Kita sein, an dem sich längst Einrichtungen im gesamten Bundesgebiet orientieren und damit eine verlässliche Rahmung für Kinder und Familien schaffen.
- Die Resilienz der beteiligten Systeme und der Kinder sollte beim Übergang durch eine Kita-Qualitätsentwicklung gesteigert werden. Denn die Teilnehmenden erleben gerade pädagogische Fachkräfte in der Kita unter großem Druck, insb. aufgrund des andauernden Personalmangels und wachsender Anforderungen.
- Ein lokaler, interdisziplinärer Austausch zwischen den beteiligten Institutionen und Personengruppen sollte ermöglicht werden. Neben den gewünschten Mindeststandards braucht es die situative und bedarfsorientierte Ausgestaltung vor Ort, die alle Perspektiven einbindet.
- Flächendeckend müssen kommunale Vernetzungsstellen implementiert und passgenaue Übergangskonzepte entwickelt werden. Jedes Konzept kann nur so gut sein, wie es praktisch vor Ort umgesetzt und mit Leben gefüllt wird. Eine wichtige Rahmung dafür können die kommunalen Präventionsketten sein, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Übergänge im Lebenslauf und zwischen den beteiligten Institutionen fließend zu gestalten. Es gibt mittlerweile viele Beispiele für solch integrierte Übergangskonzepte, die Kommune, Kita, Schule, Eltern und Kinder zusammenbringen.
Es lohnt sich, diese Forderungen weiterzuverfolgen. Bislang sind gelingende Übergänge leider noch zu sehr vom Zufall abhängig – von engagierten Einzelpersonen, der besuchten Kita, dem Einzugsgebiet der Schule, dem Wohnort der Eltern und ihren Kenntnissen und Fähigkeiten. Aus gesundheitswissenschaftlicher Perspektive ist das verheerend, weil Ungleichheiten genau hier reproduziert und verstärkt werden.
In Niedersachsen gibt es seit 2017 ein Förderprogramm zu integrierten kommunalen Strategien zur Gesundheitsförderung und Prävention. Welche Erfolge konnten Sie bei „Präventionsketten Niedersachsen: Gesund aufwachsen für alle Kinder!“ verzeichnen? Was hat sich dadurch in den niedersächsischen Kommunen verändert? Welche anderen Bundesländer verfolgen diesen strukturellen Ansatz?
Das Konzept der Präventionsketten hat sich mittlerweile in vielen Bundesländern – darunter Baden-Württemberg, Berlin, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Thüringen – bewährt als Ansatz der integrierten kommunalen Strategien. In den Ländern selbst wird der Handlungsschwerpunkt unterschiedlich gesetzt. In Niedersachsen stand jedoch immer das gesunde Aufwachsen aller Kinder im Vordergrund, allerdings mit dem Fokus auf diejenigen mit dem größten Unterstützungsbedarf. Und das sind insbesondere die von Armut betroffenen und bedrohten Kinder.
Insgesamt 22 niedersächsische Kommunen konnten über drei bis fünf Jahre beim Auf- und Ausbau ihr Präventionskette unterstützt werden, mit dem Ergebnis, dass 77 Prozent von ihnen ihre etablierten Strukturen und Angebote innerhalb der Präventionskette auch über die Förderepisode hinaus personell und/oder inhaltlich-fachlich verstetigt haben. Wieder mit Blick auf den Übergang Kita-Schule: In vielen der teilnehmenden Kommunen wurden integrierte (Übergangs-)Konzepte entwickelt und etabliert und damit gezielt Versorgungslücken geschlossen. Die Programmevaluation zeigt: Insbesondere armutserfahrene Kinder und Familien konnten davon profitieren.
Damit können wir belegen: Präventionsketten wirken! Nach sechs Jahren Programmlaufzeit zeigt sich, dass eine systematische Strategieentwicklung und eine nachhaltige Strukturbildung im Setting Kommune lohnend ist – nicht nur, aber eben auch für den Übergang Kita-Schule.
Die Fragen stellte Ulrike Meyer-Funke, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V. (BVPG).
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Informationen zum Präventionsforum 2024 finden Sie hier.
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Christina Kruse | Seit 2017 Fachreferentin bei der Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen Bremen e.V. (LVG & AFS) und zuständig für Konzeption und Umsetzung des Programms „Präventionsketten Niedersachsen“. Christina Kruse begleitet teilnehmende Kommunen fachlich und prozessual beim Auf- und Ausbau integrierter kommunaler Strategien und arbeitet themenanwaltschaftlich zur strukturellen Armutsprävention. Zuvor war sie sechs Jahre Projektmanagerin in der Bertelsmann Stiftung; Gesundheitswissenschaftlerin.