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BVPG-Vorständin Dr. Susanne Weinbrenner

„Die Sozialmedizin macht sich stark für Prävention und Gesundheitsförderung!“

Um gesundheitliche Ungleichheiten zu verringern, müssen vulnerable Gruppen gezielt erreicht werden. Über die Anforderungen an integrative Ansätze aus sozialmedizinischer Perspektive berichtet BVPG-Vorständin Dr. Susanne Weinbrenner, Leiterin der Abteilung Prävention, Rehabilitation und Sozialmedizin und Leitende Ärztin bei der Deutschen Rentenversicherung Bund (DRV).

Porträt Dr. Susanne Weinbrenner
© Die Hoffotografen Berlin

 

Vulnerable Gruppen – wen meinen wir? Vulnerabilität im sozial(medizinischen) Kontext bezeichnet die Anfälligkeit bestimmter Bevölkerungsgruppen gegenüber negativen gesundheitlichen Einflüssen. Dabei kann Vulnerabilität sowohl auf individueller als auch auf strukturell gesellschaftlicher, sozialer sowie rechtlicher Ebene bestehen und wird durch entsprechende Determinanten der Gesundheit – also den Bedingungen, unter denen Menschen geboren werden, aufwachsen, arbeiten und alt werden – maßgeblich beeinflusst.

Menschen, für die diese Beschreibung zutrifft, sind tendenziell häufiger chronisch krank bzw. haben einen schlechteren Gesundheitszustand, ein erhöhtes Mortalitätsrisiko und eine kürzere Lebenserwartung. Oftmals zeichnen sie sich durch mangelnde Gesundheitskompetenz, unzureichende Selbstwirksamkeitserfahrungen und ungesunde Verhaltensweisen aus. Sie kennen sich oft nicht gut genug im gegliederten Sozialsystem aus, um Angebote wie Gesundheitsförderung und Prävention wahrzunehmen. Ihre Vulnerabilität resultiert oft aus einer Kombination von Faktoren wie geringes Bildungsniveau, Armut, soziale Isolation, psychische Belastung und mangelnder Zugang zu Gesundheitsversorgung (soziale Determinanten der Gesundheit), und führt dazu, dass ihre Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft eingeschränkt ist.

Beispiele für vulnerable Gruppen in der Bevölkerung können Menschen in Armut, Menschen mit Fluchterfahrung, mit Migrationshintergrund, Menschen mit Behinderungen, Alleinerziehende, aber auch ältere Menschen sein.


Was kann die Sozialmedizin tun, um Menschen aus vulnerablen Gruppen zu unterstützen?

Um Menschen aus diesen vulnerablen Gruppen gesundheitlich zu unterstützen, sind umfassende und integrierte Ansätze erforderlich, die auf die spezifischen Bedürfnisse und Lebensumstände dieser Menschen eingehen. Dies reicht von politischen Maßnahmen und sozialer Unterstützung bis zu einem verbesserten Zugang zu Gesundheitsleistungen einschließlich Gesundheitsförderung und Prävention.

Die Sozialmedizin setzt insbesondere bei den letztgenannten Aspekten an und beschäftigt sich entsprechend dem bio-psycho-sozialen Modell mit individuellen und sozialen Kontextbedingungen von Teilhabe, dem Verhältnis zwischen Krankheit, Gesundheit, Individuum und Gesellschaft sowie der Erhaltung, Besserung und Wiederherstellung der Gesundheit. Um die Gesundheit vulnerabler Gruppen zu erhalten oder zu verbessern, sind aus sozialmedizinischer Perspektive die folgenden Punkte relevant:

  1. Zugang zu Präventions-/Rehabilitationsleistungen

  2. Vulnerable Gruppen bedürfen besonderer Aufmerksamkeit hinsichtlich Erreichbarkeit und Zugang zu Leistungen. Antragsverfahren zu Leistungen werden als Barriere wahrgenommen. Hier können Maßnahmen wie der Ü45-Check der Deutschen Rentenversicherung (DRV) helfen, indem sie einerseits niedrigschwellig Bedarfe an Teilhabeleistungen aufdecken und andererseits bürokratiearm bei der Antragstellung für das Präventionsprogramm RV Fit unterstützen.

  3. Berücksichtigung von Lebenslagen

  4. Verhaltensorientierte Präventionsangebote setzen oft einseitig auf individuelle Verantwortung und berücksichtigen die Lebenslagen der Menschen, wenn überhaupt, nur begrenzt. Hier besteht Nachbesserungsbedarf. So umfasst die Präventionsstrategie der DRV sowohl den bedarfsorientierten Ausbau der Prävention als auch Zugangserleichterungen für schwer erreichbare Gruppen.

  5. Sozialmedizinerinnen und Sozialmediziner als Lotsen im System

  6. Leistungen im gegliederten Versorgungssystem werden von allen Sozialversicherungsträgern erbracht. Um im System der sozialen Sicherung erfolgreich zu agieren, ist die Kenntnis der Strukturen und Prozesse unabdingbar. Die ärztlichen Zusatz-Weiterbildungen „Sozialmedizin“ und „Rehabilitationswesen“ befähigen Ärztinnen und Ärzte zur „Navigation“ im gegliederten System der Sozialversicherung insbesondere hinsichtlich rehabilitativer Unterstützung. Im Kursbuch Sozialmedizin (2. Auflage 2022) (PDF) sind Inhalte wie die UN-Behindertenrechtskonvention ebenso wie sozialmedizinische Aspekte von Migration und Diversität und interdisziplinäre Zusammenarbeit der Rehabilitationsmedizin mit anderen Fachgebieten sowie Schnittstellen sozialmedizinischer Dienste abgebildet. Die Zusammenarbeit mit anderen (nicht-ärztlichen) Disziplinen wäre hier ein relevantes Entwicklungsfeld.

  7. Forschung/Erarbeiten von Datengrundlagen

  8. Um die Lebenslagen und Bedürfnisse vulnerabler Menschen besser zu verstehen und effektive Maßnahmen zu entwickeln, sind zielgerichtete Forschung und Datenerhebung notwendig. Diese umfassen die Analyse sozialer Determinanten von Gesundheit und die Bewertung der Wirksamkeit von Präventionsprogrammen.


Aber: Vorsicht bei Kategorisierung

Auch wenn das Streben nach Unterstützung dahintersteht: Wenn wir von „vulnerablen Gruppen“ sprechen, fassen wir Menschen entsprechend bestimmten Merkmalen zusammen. Eine Kategorisierung kann jedoch mit Diskriminierung und Stigmatisierung einher gehen. Das aber widerspricht einer personenbezogenen Betrachtung. Der Mehrdimensionalität menschlichen Lebens und damit auch der Individualität des Menschen – statt einer Gruppenbetrachtung (hier: vulnerable Gruppen) – muss stets Rechnung getragen werden. Eine Weiterentwicklung der Teilhabeleistungen auf dieser Grundlage hat die jeweiligen individuellen Bedarfe zu berücksichtigen und kann nur unter Einbeziehung (Partizipation) der potentiellen Nutzerinnen und Nutzer erfolgen. Die DRV postuliert dies in ihrem Strategiepapier zur Weiterentwicklung von Prävntion und Rehabilitation.


Fazit

Menschen sogenannter vulnerabler Gruppen benötigen besondere Aufmerksamkeit und Unterstützung, um gesundheitliche Ungleichheiten zu verringern. Hier unterstützt die Sozialmedizin durch integrative und gezielte Ansätze, die sowohl körperliche als auch psychische sowie soziale Faktoren berücksichtigen. Letztendlich sollte es das Ziel einer Gesellschaft sein, jedem Menschen die gleichen Chancen auf ein gesundes und erfülltes Leben zu eröffnen und Teilhabe zu ermöglichen. Die Sozialmedizin zahlt auf dieses Ziel ein. In der Zusammenarbeit der Deutschen Rentenversicherung mit der BVPG wird die gesamtgesellschaftliche Relevanz des Themas unterstrichen und damit zur Weiterentwicklung der Prävention in Deutschland beigetragen.


Dr. Susanne Weinbrenner | Seit Juli 2012 Leitende Ärztin Deutsche Rentenversicherung Bund und Leiterin der Abteilung Prävention, Rehabilitation und Sozialmedizin, zuvor stellvertretende Institutsleitung, 2012-2006 Bereichsleiterin Evidenzbasierte Medizin und Leitlinien des Ärztlichen Zentrums für Qualität in der Medizin, 2006-2003 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Management im Gesundheitswesen (Prof. R. Busse) des Instituts für Gesundheitswissenschaften an der TU Berlin, 2002-2000 Vertreterin der Chefärztin in der Abteilung für Anästhesie am Jüdischen Krankenhaus Berlin. Parallel Studium Public Health an der TU Berlin mit Abschluss Master Public Health 2003, Studium der Humanmedizin an den Universitäten Ulm und Heidelberg, Fachärztin für Anästhesie.