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BVPG-Vorständin Dr. Reinhild Benterbusch

„Gesundheitsförderung und Prävention sind eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung!“

Über die Entwicklung der Nationalen Präventionsstrategie seit Einführung des Präventionsgesetzes, die Rolle der BVPG und die Notwendigkeit von Health in All Policies spricht Dr. Reinhild Benterbusch, Referentin für gesundheitliche Prävention im Sächsischen Staatsministerium für Soziales und Gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Porträt Dr. Reinhild Benterbusch
© Tom Maelsa/tommaelsa.com

 

Der Blick über den Tellerrand ist notwendiger denn je! Das ist es, was die BVPG als zivilgesellschaftlicher und auf der Bundesebene agierender Verein seit Jahrzehnten auszeichnet. Dabei geht es sowohl um die inhaltlichen als auch die strukturellen „Tellerränder”, um im Bild zu bleiben. Denn die BVPG zeichnet sich durch ihre Interdisziplinarität und ihre Perspektivwechsel aus, ohne ihr Kernanliegen, die Stärkung und Verankerung von Gesundheitsförderung und Prävention in allen Politik- und Lebensbereichen, aus dem Blick zu verlieren.


Präventionsgesetz, Präventionsforum und die Nationale Präventionskonferenz

Vor bald einem Jahrzehnt (Juli 2015) verabschiedete der Deutsche Bundestag das Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention, kurz Präventionsgesetz. Er verpflichtete die gesetzlichen Kranken-, Renten- und Unfallversicherungen unter anderem zu mehr gemeinsamer Quantität und Qualität in der Gesundheitsförderung und Prävention. Grundlage für das Plus an Quantität und das Plus an evaluativer Forschung ist die gesetzliche Verankerung eines Mindestbetrages, den Krankenkassen für Gesundheitsförderung und Prävention zu verausgaben haben.

Der Bundesgesetzgeber verpflichtete die Sozialversicherungsträger außerdem zur Gründung einer Nationalen Präventionskonferenz (NPK), der Herausgabe von Bundesrahmenempfehlungen zur Umsetzung von Gesundheitsförderung und Prävention sowie zur Abgabe eines vierjährlichen nationalen Präventionsberichtes. Rahmenempfehlungen und Präventionsbericht bilden die Eckpfeiler der nationalen Präventionsstrategie. Laut Präventionsgesetz führt die BVPG im Auftrag der NPK jährlich das Präventionsforum durch. Dieses Forum berät die Nationale Präventionskonferenz und ermöglicht dadurch eine sachlichinhaltliche Rückkopplung zwischen Mitgliedern der Präventionskonferenz und der Fachöffentlichkeit. Bei der Konzipierung und Durchführung des Präventionsforums in Abstimmung mit der Nationalen Präventionskonferenz kommen die interdisziplinäre Ausrichtung und die perspektivbezogene Herangehensweise der BVPG an Themen und Herausforderungen in der Gesundheitsförderung und Prävention gewinnbringend zum Tragen.

Unterschiedliche Institutionen entsenden Vertretungen in die Nationale Präventionskonferenz, um sie zu beraten. Neben den kommunalen Spitzenverbänden auf Bundesebene, der Bundesagentur für Arbeit, den repräsentativen Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer sowie dem Präventionsforum (vertreten durch die BVPG), sind dies Bund und Länder mit jeweils vier Sitzen.


Bundesrahmenempfehlungen und Landesrahmenvereinbarungen

Um zu gewährleisten, dass Sozialversicherungsträger und Länder bei Gesundheitsförderung und Prävention koordiniert zusammenarbeiten, verpflichtete das Präventionsgesetz die jeweils zuständigen Stellen in den Ländern dazu, mit den Kranken-, Unfall- und Rentenversicherungsträgern eine gemeinsame Landesrahmenvereinbarung abzuschließen. Bestandteil jeder Landesrahmenvereinbarung sind die Bundesrahmenempfehlungen, um die Realisierung der oben genannten nationalen Präventionsstrategie zu befördern.

Um zu unterstreichen, wie wichtig die kommunale Ebene für die Umsetzung gesundheitsfördernder und präventiver Konzepte oder die Berücksichtigung sozioökonomisch benachteiligter Zielgruppen wie beispielsweise Erwerbslose ist, eröffnete der Bundesgesetzgeber den kommunalen Spitzenverbänden in den Ländern sowie der Bundesagentur für Arbeit den jeweiligen Landesrahmenvereinbarungen die Möglichkeit beizutreten. Im Freistaat Sachsen beispielsweise erfolgte der Beitritt der genannten Institutionen unmittelbar nach der Unterzeichnung der Landesrahmenvereinbarung.


Rolle und Aufgabe der gesetzlichen Krankenkassen

Neben der Schaffung von Strukturen sorgte der Bundesgesetzgeber mit dem Präventionsgesetz auch dafür, dass nunmehr Mindestbeträge aus Mitteln der Versicherten unter anderem für Gesundheitsförderung und Prävention in Lebenswelten wie zum Beispiel Kitas und Schulen, für die Sensibilisierung zu mehr betrieblicher Gesundheitsförderung, zur Stärkung der Selbsthilfe oder für Projektevaluationen aufgewendet werden. Doch trotz dieser finanziellen Stärkung der Primärprävention bewegen sich die Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen im Vergleich zu ihren Gesamtausgaben auf einem sehr niedrigen Niveau.

So gaben die gesetzlichen Krankenkassen im Jahr 2022 rund 584 Millionen Euro für Gesundheitsförderung und Prävention in Lebenswelten, betriebliche Gesundheitsförderung und individuelle verhaltensbezogene Prävention aus. Dies entspricht 7,93 Euro pro Versichertem. Gemessen an den Gesamtausgaben der Krankenkassen – rund 274 Milliarden Euro im Jahr 2022 (GKV-Spitzenverband, 2024), lag der Anteil der Ausgaben für Prävention und Gesundheitsförderung im Jahr 2022 lediglich bei 0,21 Prozent (siehe Sachverständigenrat Gesundheit & Pflege, 2024, S. 210).

Das 2015 verabschiedete Präventionsgesetz sah die Weiterleitung von Versichertengeldern an die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) vor, die wiederum vom GKV-Spitzenverband beauftragt wurde, Projekte nach zuvor erstellten Kriterien und Verfahren zu entwickeln und zu bescheiden. Gegen die Weiterleitung von Geldern der Versicherten klagte der GKV-Spitzenverband beim Bundessozialgericht und erhielt im Mai 2021 recht. Nach einer Phase des Übergangs und des Umstrukturierens änderte der Bundesgesetzgeber im Mai 2023 die rechtlichen Grundlagen. In der Folge waren bis zu Beginn dieses Jahres von den Landesverbänden der gesetzlichen Krankenkassen in jedem Bundesland rechtsfähige Arbeitsgemeinschaften zu gründen, die in der Lage sind, Projekte zu bewilligen und Bescheide zu erlassen zur Förderung der Umsetzung der Landesrahmenvereinbarung im jeweiligen Bundesland. Stellungnahmen der an den Landesrahmenvereinbarungen beteiligten Institutionen sind von den Arbeitsgemeinschaften zu berücksichtigen.


Versichertengelder für Gesundheitsförderung und Prävention

Wie hoch das Mittelvolumen aus Versichertengeldern ist, das in einem Bundesland zur Umsetzung der Landesrahmenvereinbarung und/oder Krankenkassen-bezogener Vorhaben zur Verfügung steht, hängt davon ab, wie hoch die Summe ist, die der GKV-Spitzenverband zur Umsetzung seiner Aufgaben laut Präventionsgesetz veranschlagt. Die restlichen Mittel werden nach einem in der Satzung des GKV-Spitzenverbandes festgelegten Schlüssels aufgeteilt: zu 50 Prozent nach dem jeweiligen Anteil der Versicherten in einem Bundesland und zu 50 Prozent nach dem vom Robert-Koch Institut (RKI) entwickelten Deprivationsindex (englisch german index of socioeconomic deprivation, GISD; dieser Index setzt sich zu jeweils einem Drittel aus Indikatoren zu Bildung, Beruf und Einkommen zusammen).

Unbestritten ist, dass mit der letzten bundesgesetzlichen Änderung des Präventionsgesetzes den Krankenkassen auf Länderebene eine höhere Verantwortung zur Umsetzung der Landesrahmenvereinbarungen sowie Krankenkassen-bezogener Projekte zukommt. Zu vermuten ist auch, dass für Akteure das Antragsverfahren nun gestraffter abläuft als zuvor, denn die Entscheidungen fallen – förderal betrachtet – näher am Ort der Projektrealisierung. Für eine Bewertung, ob sich die Gründung und das Handeln der Arbeitsgemeinschaften in den Bundesländern mit Blick auf das Erreichen der Ziele der nationalen Präventionsstrategie und die der Landesrahmenvereinbarungen, als zielführend erweisen wird, ist es noch zu früh.

Für die Länder ist die Umsetzung des Präventionsgesetzes, vor allem mit Blick auf die gesetzliche Änderung aus Mai 2023, weiterhin bedeutsam – trotz unterschiedlicher Zuständigkeiten von Bund, Ländern und Kommunen und trotz nicht durchgängig korrespondierender Regelungen in den Sozialgesetzbüchern.


Health in All Policies – eine Frage der Haltung

Festzuhalten ist jedoch auch, dass Gesundheitsförderung und Prävention sich nicht allein auf Projekte von Krankenkassen reduzieren lassen. Gesundheitsförderung und Prävention sind Querschnittsthemen – relevant für alle Altersgruppen und Lebenswelten, in denen wir uns befinden und täglich agieren. Mit anderen Worten: Es besteht eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung, die von allen föderalen Ebenen und aus unterschiedlichen Blickwinkeln und Zuständigkeiten heraus wahrzunehmen ist. Mit „Health in All Policies” wird dieses Erfordernis, das erstmals 2006 die finnische EU-Präsidentschaft auf die oberste politische Ebene hob, von der Fachöffentlichkeit eingefordert.

Eine Ressort-, Amts- und Zuständigkeitsübergreifende Zusammenarbeit für das Gesundheitswesen – von der Primärprävention über den Öffentlichen Gesundheitsdienst bis hin zur ambulanten, stationären und rehabilitativen Versorgung – ließe sich gesetzlich beschreiben. Aber ob das in diesem umfassenden Kontext hilfreich wäre?

Mehr als formaler Verpflichtungen zur Zusammenarbeit bedarf es aus Sicht der Verfasserin einer gelebten Haltung und eines systemischen Verständnisses auf Arbeits- und Entscheidungsebenen dafür, dass Gesundheit – vereinfacht formuliert – mehr ist als die Summe seiner einzelnen „Versorgungs-Teile”: also mehr ist als ein Rückenschulkurs bei einer Krankenkasse, mehr ist als das Rezept in der Hand bzw. im Computer, mehr ist als die Hüft-OP und anschließende Reha. Neben den vielen Menschen, deren wichtige Arbeit dazu beiträgt, dass individuelle Gesundheit gefördert, erhalten und/oder wiederhergestellt wird, ist weiter für das Verständnis zu werben, dass Gesundheit immer relational ist, dass Gesundheit immer eine personale Verhaltens-, systemische, heißt multizentrische Verhältnisebene impliziert. Und dies überall, wo Menschen sind: zuhause, bei Tageseltern oder in der Kita, in Grund- oder Berufsschule, an der Uni, im Betrieb, im Jugendclub, Verein, bei Veranstaltungen, bei der Tagespflege, in Senioreneinrichtungen.

Mit dieser Haltung erarbeitet die BVPG Stellungnahmen, konzipiert Veranstaltungen, führt ihre interne und externe Kommunikation – gewissenhaft, kompetent, über ihren „Tellerrand” hinaus. Chapeau für diese kontinuierliche und gewinnbringende Arbeit verbunden mit einem „weiter so!”


Dr. Reinhild Benterbusch | Seit 2005 Referentin unter anderem für Gesundheitsförderung und Prävention beim Sozialministerium des Freistaates Sachsen, zuvor Referentin beim Sächsischen Staatsministerium für Landwirtschaft, Ernährung und Forsten. Seit der Verabschiedung des Präventionsgesetzes (PrävG) verantwortet Dr. Reinhild Benterbusch des Weiteren die Erstellung der Landesrahmenvereinbarung nach PrävG sowie danach ihre Umsetzung und Weiterentwicklung. Weitere berufliche Stationen: Justus-Liebig-Universität Gießen, Bundesforschungsanstalt für Ernährung, davor Deutsches Institut für Fernstudien; Diplom-Oecotrophologin.