BVPG-Vorständin Professorin Dr. Dagmar Starke
„Eine Abkehr von Gesundheitsförderung kann unsere Demokratie gefährden“
Mit ihrem Blog-Beitrag zum Jubiläum nimmt BVPG-Vorstandsmitglied Professorin Dr. Dagmar Starke, kommissarische Leiterin der Akademie für Öffentliches Gesundheitswesen (AÖGW), die gesundheitliche Chancengerechtigkeit in den Fokus — eines der aktuellen BVPG-Schwerpunktthemen.
In wirtschaftlich und politisch unsicheren Zeiten steht die Gesundheitsförderung vor besonderen Herausforderungen. Nicht nur gilt es mit knappen Ressourcen komplexe und vielschichtige Probleme mit gravierenden gesundheitlichen Folgen anzugehen, vielmehr scheint der Weg zu einem Health-in-and-for-All-Policies-Ansatz steiniger denn je zu sein.
Die aktuellen Entwicklungen in gesundheitspolitischer Hinsicht lassen nichts Gutes erahnen (Blog-Beitrag von BVPG-Vorstand Thomas Altgeld) und auch der vorliegende Referentenentwurf „Entwurf Gesundes-Herz-Gesetz“, zu dem die BVPG eine Stellungnahme verfasst hat, beinhaltet eine pathogenetische Sichtweise einschließlich der Medikalisierung von Bevölkerungsgruppen und einhergehend mit einer Abwendung von Evidenzbasierung, etablierten Strukturen wie dem Gemeinsamen Bundesausschuss und qualitätsgesicherter Prävention.
Gesundheitliche Chancengleichheit und -gerechtigkeit dürfen keine leeren Worthülsen sein
Die „öffentliche Sorge um die Gesundheit aller“ (Brand, Stöckel 2002) muss nicht zuletzt im Interesse unserer Demokratie ein zentrales Anliegen sein, bleiben und wieder werden. Statt individuellen Risikofaktoren wider besseren Wissens mit ärztlichen Check-ups zu begegnen (IQWIG 2024) und Statine zu verordnen, müssen gesellschaftliche Rahmenbedingungen für alle Menschen geschaffen und diese befähigt werden, ihre gesundheitlichen Potenziale zu erreichen. Gesundheitliche Chancengleichheit und -gerechtigkeit dürfen keine leeren Worthülsen sein, sondern basierend auf vorliegender Evidenz mit Community-orientierten Ansätzen nachhaltig verfolgt werden. Aufgrund ihrer gesamtgesellschaftlichen Bedeutsamkeit hat die BVPG diese Themen auf ihrer Mitgliederversammlung 2024 als Schwerpunkt ihrer Arbeit für die Jahre 2024-2026 definiert.
Die Zunahme und Verschärfung ungleicher Gesundheitschancen und die Kumulierung gesundheitlicher Probleme auf strukturell und sozioökonomisch benachteiligte Bevölkerungsgruppen sind hinreichend belegt, die SARS-CoV-2 Pandemie hat diesen Gap noch einmal vertieft (Bambra et al. 2020, Dragano et al. 2022). Es ist nicht so, dass hier ein Erkenntnisproblem vorliegt oder gar Evidenz fehlen würde, es ist vielmehr so, dass Erkenntnisse der Sozialepidemiologie konsequent nicht handlungsleitend sind – vielleicht, weil die betroffenen Bevölkerungsgruppen nicht attraktiv genug sind oder ihr Beitrag in wirtschaftlicher Hinsicht zu gering ist?
Politische Entwicklungen und rechtsnationale Strömungen bedürfen koordinierter Antworten von Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft
Die politischen Entwicklungen und rechtsnationalen Strömungen nicht nur in Deutschland eskalieren die Situation um ein Vielfaches und bedürfen koordinierter Antworten und Aktionen von Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft.
Die Hinwendung zur medizinischen Individualprävention und Abwendung von Public Health im Sinne eines bevölkerungs- und systembezogenen Ansatzes, der sich bisher ohnehin in Deutschland nur unzureichend widerspiegelt, wie das Zukunftsforum Public Health bereits 2016 zurecht moniert hat (Dragano et al. 2016), ist mehr als ein Fingerzeig auf blinde Flecken. Dies betrifft einerseits die oben bereits angesprochene und mit nur wenigen Ausnahmen erfolgende Nichtberücksichtigung sozialepidemiologischen Wissens, es betrifft aber gleichzeitig auch fehlende Perspektiven in der Forschung.
Eine relevante Perspektive, die in der Forschung, in der Berichterstattung und in der Praxis zu kurz kommt, ist die Intersektionalität. Das interdisziplinäre Forschungskonzept der Intersektionalität zielt auf die Analyse verschiedener gesellschaftlicher Ungleichheiten wie z. B. Religionszugehörigkeit, Herkunft/Migrationsgeschichte, Raum u. v. m. in ihrer Verflochtenheit.
Die Ergebnisse des aktuellen Rassismusmonitors in 2024 zeigen, dass Menschen mit Rassismuserfahrungen etwa trotz Vollzeitbeschäftigung häufiger armutsgefährdet sind. Die Verschränkung von Armut und Gesundheit ist hinlänglich belegt (Hoebel et al. 2024). Zudem hat der Rassismusmonitor 2023 gezeigt, dass Menschen, die häufig Diskriminierungserfahrungen machen, sich bedeutend seltener um psychotherapeutische Termine bemühen, medizinische Behandlungen verzögern und bei fiktiven Terminanfragen öfter Absagen erhalten.
An den exemplarisch aufgeführten Ergebnissen zeigt sich die Notwendigkeit bevölkerungs- bzw. communitybezogener Ansätze gerade in der Gesundheitsförderung z. B. mittels Community-basierter partizipativer Forschung.
Gesundheitsfolgenabschätzungen bei allen relevanten Gesetzes- und Planungsvorhaben
Aus fachlicher Sicht ist es geboten, Evidenzinformiertheit zu fördern, Praktikerinnen und Praktiker zu befähigen, Evidenzsynthesen zu erarbeiten und Entscheidungen abzuwägen. Aus strategisch-politscher Sicht sollten Gesundheitsfolgenabschätzungen, sogenannte Health Impact Assessments (HIA), bei allen relevanten Gesetzes- und Planungsvorhaben für die Gesundheit der Bevölkerung durchgeführt werden.
Wie komplexe Interventionen zu mehr gesundheitlicher Chancengerechtigkeit und -gleichheit beitragen können und welche Erkenntnisse sich daraus ableiten lassen – dazu wird die BVPG ihren Beitrag leisten. Sie hat in Kontinuität mit dem und als Konkretisierung des Positionspapiers „Weiterentwicklung des Handlungsfeldes Prävention und Gesundheitsförderung“, das im Mai 2023 veröffentlicht wurde, u. a. die AG „Gesundheitliche Chancengerechtigkeit“ eingerichtet, die nach der Sommerpause ihre Tätigkeit aufnimmt. Wir freuen uns auf rege Diskussionen und Ergebnisse im kommenden Jahr!
Dagmar Starke | Seit 2022 kommissarische Leitung der Akademie für Öffentliches Gesundheitswesen, zuvor stellvertretende Leitung und zuständig für die fachliche Koordination; Referentin für Epidemiologie und Gesundheitsberichterstattung sowie Gesundheitsförderung und Prävention. 2005-2010 Referentin für gesundheitspolitische Grundsatzfragen bei der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein. 2005-2001 Abteilungsleitung Gesundheitsförderung, Gesundheitsberichterstattung und Beratungsdienste im Gesundheitsamt Mülheim an der Ruhr. 1995-2001 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Public Health e.V. (DGPH); Diplom-Pädagogin.
Quellen:
Bambra, C., Riordan, R., Ford, J. & Matthews, F. (2020). The COVID-19 pandemic and health inequalities. Journal of Epidemiology and Community Health, 74(11), 964-968. https://doi.org/10.1136/jech-2020-214401
Brand, A. & Stöckel, S. Die öffentliche Sorge um die Gesundheit aller - ein sinnvoller Anspruch? Brand, A. et al. (Hrsg.): Individuelle Gesundheit versus Public Health?, 2002, 11-28.
Dragano, N., Dortmann, O., Timm, J., Mohrmann, M., Wehner, R., Rupprecht, C. J., Scheider, M., Mayatepek, E. & Wahrendorf, M. (2022). Association of Household Deprivation, Comorbidities, and COVID-19 Hospitalization in Children in Germany, January 2020 to July 2021. JAMA network open, 5(10), e2234319. https://doi.org/10.1001/jamanetworkopen.2022.34319
Dragano, N., Gerhardus, A., Kurth, B.-M., Kurth, T., Razum, O., Stang, A., Teichert, U., Wieler, L. H., Wildner, M. & Zeeb, H. (2016). Public Health - mehr Gesundheit für alle [Public Health: Setting Goals, Establishing Structures and Improving Health for All]. Das Gesundheitswesen, 78(11), 686-688. https://doi.org/10.1055/s-0042-116192
Hoebel, J., Nowossadeck, E., Michalski, N., Baumert, J., Wachtler, B. & Tetzlaff, F. (2024). Sozioökonomische Deprivation und vorzeitige Sterblichkeit in Deutschland 1998-2021: Eine ökologische Studie mit What-if-Szenarien der Ungleichheitsreduktion [Socioeconomic deprivation and premature mortality in Germany, 1998-2021: An ecological study with what-if scenarios of inequality reduction]. Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz, 67(5), 528-537. https://doi.org/10.1007/s00103-024-03862-0
Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) (2024). Zielgruppenspezifische Ansprache von Versicherten bei der allgemeinen Gesundheitsuntersuchung; Rapid Report [online]. [Zugriff: 23.06.2024]. URL: https://dx.doi.org/10.60584/P23-01.
https://www.rassismusmonitor.de/publikationen/rassismus-und-armutsgefaehrdung/ - Zugriff: 03.07.2024
https://www.rassismusmonitor.de/publikationen/rassismus-und-seine-symptome/#c2807 - Zugriff: 03.07.2024