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Interview mit Maria Flothkötter

„Stillen ist Prävention - für einen gesunden Start ins Leben!”

Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) hat 2021 die Nationale Strategie zur Stillförderung beschlossen. Über die Umsetzung der Strategie und die Kommunikation zur Stillförderung informiert Maria Flothkötter, Leiterin des Netzwerks Gesund ins Leben im Bundeszentrum für Ernährung.

Porträt Maria Flothkötter, Leiterin des Netzwerks Gesund ins Leben im Bundeszentrum für Ernährung (BZfE)
© BLE 2023/Ebersoll

 

Die Nationale Strategie zur Stillförderung verfolgt das Ziel, die Rahmenbedingungen für das Stillen zu verbessern und die Stillmotivation in Deutschland zu erhöhen. Warum ist das Stillen so bedeutsam?

Muttermilch ist Superfood, so die Überschrift einer unserer Pressemeldungen. Denn Muttermilch ist in ihrer Zusammensetzung ideal auf die Bedürfnisse des Babys abgestimmt, und zwar unnachahmlich gut. Insbesondere die präventiven, gesundheitlichen Effekte des Stillens sind wissenschaftlich sehr gut belegt. So erkranken gestillte Kinder im 1. Lebensjahr seltener an Durchfall- und Atemwegserkrankungen und sind im Erwachsenenalter seltener übergewichtig als nicht gestillte Kinder. Frauen, die gestillt haben, bekommen seltener Brust- und Eierstockkrebs.

Und für beide gilt: Stillen senkt das Risiko, an Diabetes Mellitus Typ 2 zu erkranken. Aber auch psychosoziale Effekte wie die Stärkung der Bindung zwischen Mutter und Kind sind sehr bedeutsam. Stillen ist Prävention und insbesondere für Frauen in belasteten Lebenslagen eine wertvolle Ressource.


Bislang gilt Deutschland als moderat stillfreundlich, wie eine interdisziplinäre Expertenkommission des Forschungsprojektes „Becoming Breastfeeding Friendly” (BBF) von 2017 bis 2019 in einer systematischen Bestandsaufnahme ermittelt hat.

Über internationale Partner sind wir auf das Forschungsvorhaben Becoming Breastfeeding der Universität Yale unter Leitung des Public Health-Wissenschaftlers Rafael Perez-Escamilla aufmerksam geworden. Es gelang uns, dass Deutschland in die wissenschaftlich begleitete Erprobungsstudie dieses Vorhabens aufgenommen wurde. Das Vorhaben bestand aus zwei Phasen. Zunächst recherchierten und analysierten Expertinnen und Experten einer Kommission aus Politik, Praxis, Wissenschaft und Medien systematisch alle wichtigen Handlungsfelder der Stillförderung: von der öffentlichkeitswirksamen Fürsprache über politischen Willen, Gesetzgebung, Finanzierung, Bildung und Stillberatung, Werbung, Forschung und Evaluation bis hin zu Zielsetzung und Koordination.

Über diese Stärken-Schwächen-Analyse gelangten wir zu einem tiefgreifenden Verständnis der Zusammenhänge und der zentralen Stellschrauben der Stillförderung in Deutschland. In einer zweiten Phase wurden aus diesen Erkenntnissen konkrete Empfehlungen für die Stillförderung, sogenannte „calls to actions” für Politik und weitere Entscheidungsträger abgeleitet.

Insgesamt acht Empfehlungen legte die Kommission vor. Die zentrale Rahmenempfehlung, eine Nationale Strategie zur Stillförderung zu entwickeln, wurde im Anschluss partizipativ mit Akteurinnen und Akteuren aus allen Handlungsfeldern erarbeitet und 2021 durch die Bundesregierung beschlossen. In ihr werden die Arbeitsergebnisse von BBF in acht Strategiefeldern aufgegriffen und das Netzwerk Gesund ins Leben mit dem Strategiefeld „Kommunikation zur Stillförderung” betraut.


Wo gibt es Nachholbedarf in Deutschland?

In vielen Bereichen ist Deutschland bereits sehr gut aufgestellt, auch gibt es zahlreiche Akteursgruppen, die sich teilweise schon seit Jahrzehnten für die Stillförderung engagieren. Aber vieles läuft eben auch parallel und nicht aufeinander abgestimmt. Aufgrund unseres komplexen politischen Systems, mit Zuständigkeiten für die Stillförderung auf allen föderalen Ebenen (inkl. EU), von mindestens drei Bundesressorts sowie einem Gesundheitssystem in Selbstverwaltung fehlt es vor allen Dingen an Transparenz - an einem Überblick über das, was alles läuft in der Stillförderung.

Und es braucht dringend Koordination, damit die zahlreichen Aktivitäten und Ressourcen gebündelt und so mehr Wirkung entfalten können. Weiteren Nachholbedarf gibt es in der konkreten Unterstützung von stillenden Frauen und ihrem sozialen Umfeld. Denn daran hapert es noch gewaltig. 90 Prozent der Schwangeren äußern den Wunsch zu stillen, 87 Prozent der Mütter beginnen damit, nach vier Monaten stillen nur noch 40 Prozent ausschließlich und nach sechs Monaten nur noch 13 Prozent (Robert Koch-Institut / KiGGS-Studie 2018).

Die Frauen fangen an zu stillen, geben aber aufgrund von Stillproblemen vor allem in den ersten Lebenswochen des Kindes das Stillen schnell wieder auf. Der Unterstützungsbedarf zeigt sich besonders bei Familien aus sozial benachteiligtem Umfeld. Gerade diese Kinder würden besonders von den gesundheitlichen Effekten des Stillens profitieren, werden aber 2,5-mal seltener gestillt als Kinder aus Familien mit hohem Bildungsabschluss.

Grundsätzlich gilt: Von einer umfassenden und guten Begleitung in Schwangerschaft und Stillzeit profitieren letztendlich alle Mütter.


Ziel der Nationalen Strategie zur Stillförderung ist es, Deutschland stillfreundlicher zu machen und die Stillraten nachhaltig zu steigern. Was ist Aufgabe des Netzwerks Gesund ins Leben?

Das Netzwerk Gesund ins Leben ist Teil des Bundeszentrums für Ernährung. Unsere Aufgabe besteht darin, die Kommunikation zu allen Themen der Nationalen Strategie zur Stillförderung im Zusammenspiel mit allen Akteursgruppen zu entwickeln, zu koordinieren und gemeinsam mit ihnen umzusetzen. Damit adressieren wir die Fachöffentlichkeit - also die Multiplikatorinnen und Multiplikatoren im Umfeld der Familien, die Familien selbst und über unsere Öffentlichkeitsarbeit auch die Gesamtbevölkerung.

In den sieben Strategiefeldern, die das Max Rubner-Institut (MRI) steuert, werden sehr unterschiedliche Themen bearbeitet: Etwa die Förderung der Vereinbarkeit von Stillen und Beruf, die Integration von Stillwissen in medizinische Aus-, Fort- und Weiterbildung oder die Präventions- und Versorgungsstrukturen - alle Maßnahmen dienen dem Ziel, Rahmenbedingungen zu verbessern und die Stillfreundlichkeit zu steigern. Das Netzwerk Gesund ins Leben hat die Querschnittsaufgabe, die Themen und Ergebnisse der Strategiefelder an die Fachöffentlichkeit, Presse, (werdende) Familien und die Bevölkerung zu kommunizieren und darüber hinaus eigene Kommunikationsmaßnahmen zu erarbeiten. Dies erfolgt gemeinsam mit unseren Begleitgremien wie beispielsweise dem Akteursnetzwerk zur Stillförderung.

Fachliche Grundlage unserer Kommunikation sind einschlägige Leitlinien, die Handlungsempfehlungen des Netzwerks, unser Handbuch „Basiswissen Stillen” oder der „Leitfaden zur Kommunikation rund um das Stillen”.


Die Nationale Strategie zur Stillförderung umfasst insgesamt acht Strategiefelder. Welche Bereiche stehen im Fokus der Stillförderung?

Im Fokus steht derzeit neben der Kommunikation die Fertigstellung einer AWMF-S3-Leitlinie Stilldauer und Interventionen zur Stillförderung. Sie ist fachliche Grundlage für andere Strategiefelder. Damit Stillförderung aber gelingen kann, müssen alle Bereiche ineinandergreifen - wie die Räder eines Uhrwerks.

Entsprechend dieses gesamtgesellschaftlichen „Health in All Policies”-Ansatzes nimmt die Strategie sieben Strategiefelder in den Fokus: „evidenzbasierte Leitlinien”, „Aus-, Fort- und Weiterbildung”, „Präventions- und Versorgungsstrukturen”, „kommunale Stillförderung”, „Stillen und Beruf”, „Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten” und „systematisches Stillmonitoring”. Die „Kommunikation zur Stillförderung” ist das achte Strategiefeld und als Querschnittsaufgabe für alle Strategiefelder zu verstehen.


Das Akteursnetzwerk zur Stillförderung hat 2020 seine Arbeit aufgenommen. Insgesamt 44 Akteurinnen und Akteure gehören dem Netzwerk an, darunter auch die BVPG.

Das Akteursnetzwerk bringt Expertinnen und Experten aus ganz unterschiedlichen Bereichen zusammen, die direkt oder indirekt in Kontakt mit werdenden und jungen Familien stehen. Vertreten sind politische Akteurinnen und Akteure auf Ebene von Bund, Ländern und Kommunen, Kostenträger, Berufsverbände von Ärztinnen und Ärzten und der Gesundheitsfachberufe, Sozialverbände und Beratungsinstitutionen, Selbsthilfe- und Betroffenenverbände sowie Personen mit Kommunikations- und Kampagnenexpertise. Für die zweite Berufungsperiode, 2024 bis 2027 haben wir das Netzwerk vor allem im Bereich der Selbsthilfe- bzw. Betroffenenverbände sowie der politischen Akteure auf Ebene der Bundesländer und der Kommunen verstärkt.

Alle Mitglieder bringen unterschiedliche und wertvolle Expertisen für die Kommunikation und/oder Zugangswege zu den werdenden und jungen Familien ein. Neben der gemeinsamen Verbreitung von Inhalten, Medien und sonstigen Aktivitäten im Akteursnetzwerk, ist die Einbindung der Akteurinnen und Akteure ein ganz wichtiger Baustein der Qualitätssicherung. Zum Beispiel bringen sie die Perspektiven und Bedürfnisse der Zielgruppen mit ein, damit die Kommunikationsmaßnahmen besser zugeschnitten werden können.


Was hat sich das Akteursnetzwerk für die nächsten 3 Jahre vorgenommen?

Wir möchten das Potenzial des Akteursnetzwerks noch stärker zur Geltung bringen. Die Vielfalt dessen, was die Partner einbringen, ist immens und diesen Schatz möchten wir bekannter und breiter zugänglich machen. Das Akteursnetzwerk dient daher als Austauschplattform: Alle Beteiligten können ihre stillrelevanten Medien und Angebote hier verbreiten. Das sorgt für Transparenz und spart Ressourcen, denn nicht jede bzw. jeder muss alles selber machen. Durch die breit gefächerte Expertise, die unterschiedlichen Arbeitsfelder und Kommunikationskanäle der Akteurinnen und Akteure gelangen die Informationen auf vielen Wegen zu den jungen Familien.

Der inhaltliche Schwerpunkt liegt in der Verbreitung von Stillwissen. So möchten wir die Beratungskompetenz von Multiplikatorinnen und Multiplikatoren im Umfeld von jungen Familien verbessern, denn diese stellen den wichtigsten und meistens auch glaubwürdigsten Kommunikationsweg zu den jungen Familien dar. Werdende und junge Familien sollen aber auch direkt adressiert werden. Und auch bevölkerungsweit ist die Vermittlung von Basiswissen zur Bedeutung und Praxis des Stillens wichtig, denn sie führt zu mehr Akzeptanz des Stillens, vor allem in der Öffentlichkeit.

Konkrete Schwerpunkte legen wir in diesem Jahr auf Fortbildungen: So veröffentlichen wir in Kürze einen gemeinsam mit dem Nationalen Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) entwickelten und frei zugänglichen Online-Kurs zum Thema „Stillen ressourcenorientiert begleiten”. Er ist für Gesundheitsfachkräfte der Frühen Hilfen und weitere Fachkräfte gedacht. Auch planen wir eine Informationsoffensive zum Thema „Richtiges Anlegen” und unterstützen diese mit einem Poster und einem Kurz-Video, das wir gemeinsam mit dem Deutschen Hebammen Verband (DHV) produzieren.

Ein drittes Highlight ist wie jedes Jahr die Weltstillwoche, die jedes Jahr in der 40. Kalenderwoche stattfindet - in diesem Jahr vom 30. September bis zum 6. Oktober unter dem Motto: „Stillfreundliche Strukturen. Für alle.” Bei der Ausgestaltung sind wir noch mitten in der Planung und informieren ab September. Gemeinsam mit dem neu aufgestellten Akteursnetzwerk kommen wir so unserem Koordinierungs- und Kommunikationsauftrag nach und tragen hoffentlich dazu bei, dass Deutschland stillfreundlicher werden kann.


Die Fragen stellte Ulrike Meyer-Funke, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V. (BVPG).


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BVPG-Interview mit Dr. Romy Ermler, Vizepräsidentin der Bundeszahnärztekammer (BZÄK), über die Prävention von Zahn- und Munderkrankungen und den diesjährigen Schwerpunkt des Tags der Zahngesundheit: „Gesund beginnt im Mund - von Anfang an!”


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Maria Flothkötter | Seit 2009 Leiterin des Netzwerks Gesund ins Leben - dazu gehört die Geschäftsstelle und ein etwa 600 Organisationen umfassendes bundesweites Netzwerk. Sie hat Gesund ins Leben zunächst im Rahmen einer IN FORM-Projektförderung mit den Mitgliedern der Lenkungsgruppe, dem wissenschaftlichen Beirat und dem Bundesernährungsministerium aufgebaut. Seit 2016 wird Gesund ins Leben institutionell gefördert. Von 2017 bis 2019 leitete sie das Forschungsvorhaben Becoming Breastfeeding Friendly in Deutschland und ist hauptverantwortlich für die Umsetzung der kommunikativen Aufgaben der Stillstrategie. Maria Flothkötter ist Ernährungswissenschaftlerin.