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BVPG-Schatzmeister Thomas Altgeld

„Mehr Gesundheit für alle geht nur über mehr Health in All Policies!“

Thomas Altgeld, Geschäftsführer der Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen Bremen e.V. (LVG & AFS) und langjähriger Schatzmeister der BVPG, plädiert in seinem Blogbeitrag anlässlich des 70-jährigen Bestehens der BVPG für mehr Gesundheit in allen Politikbereichen.

Portät Thomas Altgeld
© LVG & AFS Niedersachsen Bremen e.V.

 

Im Jahr 2023, dem Jahr also, in dem die COVID-19-Pandemie offiziell für beendet erklärt wurde, zeigte sich, dass den Allmachtsfantasien einer vermeintlich präventiven Medizin in Deutschland zurzeit so gut wie keine Grenzen gesetzt sind. Am 4. Oktober präsentierte der amtierende Gesundheitsminister auf einer Bundespressekonferenz seine überraschenden Ideen zu einem „Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin" (BIPAM). Aus dem anspruchsvollen Projekt des Koalitionsvertrages, der Weiterentwicklung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in ein Bundesinstitut für öffentliche Gesundheit, war eine von oben verordnete „Selbstverzwergung“ des Public Health-Anspruches geworden. Erwartet worden war eine zukunftsfähige, umfassende Strategie für Public Health in Deutschland, New Public Health. Im Fokus des BIPAM steht nun im Wesentlichen eine wahrscheinlich wenig effektive, aber intensivierte Gesundheitskommunikation zu nicht-übertragbaren Krankheiten.

Keine drei Wochen später wurde auf dem Preventure-Kongress in Berlin, der nach eigenem Motto „more glory for prevention“ herbeifinanzieren wollte, unter dem Beifall der Anwesenden ein „Continuous Health Action Cycle“ präsentiert, der sich von der teuren Illusion nährt, über individuelle „präzise Prädiktion“ ließe sich die Prävention stärken. Lebenslange, standardisierte medizinische Untersuchungen und Begleitung sollen also die Basis für ein gelingendes, langes Leben darstellen?

Einfacher gestrickt ist die Partei für schulmedizinische Verjüngungsforschung, die dieses Jahr zur Europawahl antrat, auch nicht unterwegs. Sie glaubt allen Ernstes, dass ein Mensch 1.000 Jahre leben kann, wenn nur genügend medizinische Forschung auf den Weg gebracht wird.

Woher kommt dieser neue, naive Fortschrittsglaube an die Wunder einer präventiven Medizin? Auch wenn für eine Infektionskrankheit sehr schnell ein wirksamer Impfstoff entwickelt wurde, hat sich gerade in der Pandemie gezeigt, wie entscheidend die sozialen Determinanten der Gesundheit sind und dass die soziale Lage auch über die Infektions- und Überlebenswahrscheinlichkeit bei einer Infektionskrankheit wie COVID-19 bestimmt. Die Pandemie hat zugleich verdeutlicht, wie eng übertragbare und nicht-übertragbare Erkrankungen zusammenhängen, weil die Übersterblichkeit der Männer auf Vorerkrankungen oder Risikofaktoren (z. B. Übergewicht oder Rauchen) rückführbar war. Gerade das macht übrigens eine Trennung der Bundesinstitute im Public Health Sektor nach Krankheitsarten vollends absurd.


Verhältnisprävention bei Tabak - eine Erfolgsgeschichte!

Deutschland braucht dringend systematischere Präventions- und Gesundheitsförderungsstrategien. Diese sind allerdings nicht aus der Mottenkiste einer paternalistischen Medizin generierbar. Deutschland ist in Bezug auf Verhältnisprävention europaweit eine der großen Bremsernationen für effektive Ansätze. Kein Wunder eigentlich, dass in einem Land, in der Bierbrauerei als hochzuhaltendes Kulturgut gilt, der Wille oder der Mut zu einer systematischen Besteuerung von alkoholischen Getränken oder auch nur zu ernsthaften Diskussionen über Werbeverbote für die Alkoholindustrie fehlen. Dasselbe lässt sich über ein Tempolimit auf Autobahnen sagen, das mit Rücksicht auf die Automobilindustrie indiskutabel scheint. Dabei ließen sich durch Geschwindigkeitsbegrenzungen viele Unfälle und eine größere Feinstaubbelastung der Lust effektiv reduzieren. In Europa gibt es kein einziges Land und weltweit hat nur eine Handvoll „ohne Tempolimits“ eingeführt. Nur die Autolobby der Bundesrepublik beharrt aus reiner Profitgier auf den sogenannten Freiheiten des unbegrenzten Fahrens.

Deutschland hat immerhin 2023 als letztes EU-Land Tabakwerbung im öffentlichen Raum verboten. Dabei zeigt gerade die gelungene Verhältnisprävention im Bereich Tabak, wohin die Reise gehen muss. Die Denormalisierung des Rauchens in der Öffentlichkeit durch Rauchverbote, die ansteigenden Tabaksteuern sowie die Werbeverbote für Tabak haben über 20 Jahre hinweg zu kontinuierlich sinkenden Quoten bei Raucherinnen und Rauchern geführt. Ein Ergebnis, das die symbolischen „Rauchfrei“-Kampagnen der offiziellen Gesundheitskommunikation parallel zu milliardenschwerer Tabakwerbung über Jahrzehnte nicht erreicht haben. Die BVPG hat frühzeitig internationale Positionen aufgegriffen und zählte um die Jahrtausendwende zu den ersten zentralen Akteuren in Deutschland, die mehr Verhältnisprävention zur Bekämpfung des Tabakrauchens gefordert haben.


Gesundheitliche Chancengleichheit als zentrale Herausforderung

Mehr gesundheitliche Chancengleichheit lässt sich nicht über Plakate, Werbematerialien oder Posts in sozialen Medien herstellen, sondern indem vor Ort die gesündere Wahl die leichtere Wahl wird, wie es die Weltgesundheitsorganisation (WHO) fordert. Das fängt bei dem Aufbau von Präventionsketten in sozial benachteiligten Stadteilen an und setzt sich über lebensweltbezogene, partizipativ angelegte Gesundheitsförderung in den Bildungssettings fort.

Es braucht eine gesetzliche Rahmung dafür, etwa hinsichtlich der Finanzierung und Ausstattung von Gemeinschaftsverpflegung, dem Ausbau der bewegungsfördernden Infrastruktur in den Kommunen oder Geschwindigkeitsbegrenzungen in Wohngebieten.

Die gesundheitliche Chancengleichheit ist in der aktuellen Debatte um das Bundesinstitut für öffentliche Gesundheit eine totale Leerstelle. Das Robert Koch-Institut hat zwar einen Deprivationsindex auf Kreisebene entwickelt, der gesundheitliche und soziale Parameter abbildet. In den öffentlichen Diskussionen um Aufgabenzuschnitte im Bereich der präventiven Medizin spielen diese Erkenntnisse jedoch offenbar keine Rolle mehr. Dabei herrscht hierzulande nach wie vor ein Präventionsdilemma: Das Gros der herkömmlichen Präventionsansätze, zum Beispiel durch Krankenkassen oder Arbeitgebenden, erreicht insbesondere solche Bevölkerungsgruppen, die die geringsten Präventionsbedarfe haben, weil sie über ein hohes Gesundheitsbewusstsein verfügen und einen gesünderen Lebensstil pflegen.

Die BVPG war deshalb gemeinsam mit den Landesvereinigungen für Gesundheit 2002 Impulsgeber für die Gründung des Kooperationsverbundes Gesundheitliche Chancengleichheit, dem sich viele Akteurinnen und Akteure im Verlauf der letzten zwanzig Jahre angeschlossen haben. Leider hat das noch nicht dazu geführt, dass gesundheitliche Chancengleichheit zu einer wesentlichen Grundorientierung der Prävention und Gesundheitsförderung in Deutschland geworden ist. Nach wie vor wird häufig das vorangetrieben, was Rolf Rosenbrock und Joseph Kühn eine „Zuchtwahl“ von Präventionskonzepten genannt haben: Es wird oft das gemacht und verbreitet, was am einfachsten umzusetzen ist. Im Moment „trenden“ deshalb die Heilsversprechen einer paternalistischen Medizin.

Die oft wirksameren, wenn zugleich auch anspruchsvolleren Präventionsstrategien in Lebenswelten und auf der Ebene von gesetzlicher Rahmensetzung jedoch sind wenig attraktiv. Schon heute werden zu viele Präventionsansätze nebeneinander organisiert und finanziert (z. B. Sucht-, Gewalt-, Übergewichts- und Unfallprävention). Dabei wäre auf der Ebene der frühen Bildungssettings (KiTa und Grundschule) die Förderung von Lebenskompetenzen und des Selbstwirksamkeitserlebens der Kinder zu vermitteln — quasi primärpräventiv für alle beispielhaft angeführten Präventionsbereiche und viele weitere noch dazu. Dass für jede Problemlage und Krankheit eine eigene Präventionsstruktur aufgebaut wird, geht völlig an den Herausforderungen eines Aufwachsens in Wohlergehen vorbei und ist zu sehr aus dem Gesundheitsbereich heraus gedacht.

Die wesentlichen Stellenschrauben für mehr Gesundheit für alle werden nicht über kleinteilige Präventionsprogramme gedreht, sondern über mehr Gesundheit in allen Politikbereichen – über Health in All Policies (HiAP)! Dabei kommt auch der gelingenden Armutsprävention für nachwachsende Generationen eine zentrale Rolle zu. In den in mehreren Bundesländern nun modellhaft erprobten Präventionsketten, durch die ein Aufwachsen in Wohlergehen durch integrierte kommunale Handlungskonzepte ermöglicht werden soll, wird von den Bedarfslagen der Familien gedacht und diese an der Gestaltung von Maßnahmen beteiligt. Hier bleibt für die BVPG und ihre Mitgliedsorganisationen noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten.


Thomas Altgeld | Seit 1993 Geschäftsführer der Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen Bremen e.V. (LVG & AFS); Studium der Psychologie, Abschluss Diplompsychologe. Schatzmeister der Bundesvereinigung für Prävention und Gesundheitsförderung e.V., Vorstandsvorsitzender des BUNDESFORUM MÄNNER Interessenverband für Jungen, Männer & Väter e.V., Vorsitzender des Ausschusses des Kooperationsverbundes www.gesundheitsziele.de, Leiter der Arbeitsgruppe „gesund aufwachsen“ und der Arbeitsgruppe „Gesundheit rund um die Geburt“ bei www.gesundheitsziele.de, Mitglied im Stiftungsbeirat der Bundesstiftung Gleichstellung, Mitglied im wissenschaftlichen Beirat Gesundheitsmonitoring des Robert-Koch-Institutes, Mitglied des Vorstandes der Verbraucherzentrale Niedersachsen e.V., Herausgeber der Fachzeitschrift „Impu!se für Gesundheitsförderung“.