BVPG-Vizepräsidentin Britta Susen
„Wir müssen die Prävention ausbauen und auf Zielgruppen fokussieren!“
Zum BVPG-Jubiläum 2024: Ein Plädoyer für mehr Gesundheitsförderung und Primärprävention aus Sicht der Ärzteschaft von BVPG-Vizepräsidentin Britta Susen, Leiterin des Dezernates Public Health der Bundesärztekammer (BÄK).
Die gesundheitlichen Folgen von Bewegungsmangel, Fehlernährung, verschiedener Formen von Suchtverhalten und übermäßigem Medienkonsum sind im ärztlichen Alltag deutlich spürbar. Sie haben einen nicht unerheblichen Anteil an der hohen Prävalenz der heute vorherrschenden Erkrankungen.
Umso mehr sind Ärztinnen und Ärzte über die bereits in der jungen Generation bestehenden gesundheitlichen Probleme beunruhigt. Viele Kinder und Jugendliche in Deutschland nehmen deutlich zu viele Süßigkeiten und Snacks zu sich. Zudem bewegen sie sich zu wenig. 15,4 Prozent der 3- bis 17-Jährigen sind übergewichtig, 6 Prozent adipös. Diese Fehlentwicklungen haben sich durch die Corona-Pandemie noch weiter verschärft. Hinzu kommen die mit einer Pandemie einhergehenden psychischen Belastungen, die fortwirken.
Stärkung der Gesundheitskompetenz
Defizite bestehen in Deutschland auch bei der Vermittlung von Gesundheitswissen und der Entwicklung von Gesundheitskompetenz. Dabei ist die Gesundheitskompetenz nicht nur für den Erhalt der Gesundheit, sondern letztlich auch für eine sachgerechte Nutzung unseres Gesundheitswesens von großer Bedeutung.
Dringend erforderlich sind daher aus Sicht der Ärzteschaft nachhaltige Konzepte und Maßnahmen zur Verbesserung der Gesundheitsbildung im Kindes-, Jugend- und jungen Erwachsenenalter sowie zur Stärkung der Gesundheitskompetenz. Bei Gesundheitskompetenz geht es nicht nur um die Vermittlung von gesundheitsbezogenem Wissen, sondern auch um einen Lern- und Entwicklungsprozess, der dazu befähigt, den Einfluss von Faktoren wie Ernährung, Bewegung, Umweltbedingungen und Alltagshandeln auf die eigene Gesundheit zu erkennen und Entscheidungskompetenzen zu entwickeln. Gesundheitskompetenz ist ein wichtiger Bestandteil der Primärprävention und somit auch eine Voraussetzung zur Gesunderhaltung. Der 127. Deutsche Ärztetag hat daher 2023 die nachhaltige Verankerung der Förderung von Gesundheitskompetenz fächerübergreifend und im Alltag von Erziehungs- und Bildungseinrichtungen gefordert.
Ungleiche Gesundheitschancen abmildern
Das Bekenntnis zu (mehr) Gesundheitsförderung und (Primär-)Prävention findet sich seit Jahren in den gesundheitspolitischen Programmen und den Statements aller Akteure im Gesundheitswesen, so auch im aktuellen Koalitionsvertrag der Bundesregierung. Bei näherer Betrachtung lässt sich jedoch feststellen, dass weder im Gesundheitswesen noch - im Sinne von Health in All Policies - in anderen Politikfeldern wie dem Bildungs-, Sozial- und Arbeitsressort Gesundheitsförderung und Prävention bislang angemessen berücksichtigt werden.
Zielsetzung muss sein, die Entstehung von Krankheiten viel stärker als bisher zu verhindern bzw. ihre Entstehung auf einen späteren Zeitpunkt im Lebenslauf zurückzudrängen. Erfolgreich wird eine solche Präventionsstrategie nur sein, wenn sie deutlich stärker als bisher die gesellschaftlichen Einflussfaktoren von Gesundheit bzw. Krankheit und sozial bedingte, ungleiche Gesundheitschancen mitberücksichtigt. Um eine weitere Verstärkung sozialer Ungleichheiten abzumildern, ist es aus Sicht der Ärzteschaft erforderlich, einen besonderen Fokus auf Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien zu legen.
Klimawandel und Gesundheit
Die Auswirkungen der sozialen Ungleichheit auf die Gesundheit zeigen sich vielfältig, beispielsweise auch bei den Auswirkungen des Klimawandels. Klimawandel bedeutet in Deutschland insbesondere häufigere, längere und intensivere Hitzeperioden. Hitze hat ernsthafte Folgen für die Gesundheit. Vor allem Ältere und Vorerkrankte, Kleinkinder und Schwangere gehören zu den vulnerablen Gruppen. Unter Hitzeperioden leiden jedoch insbesondere auch Personen, die aus beruflichen Gründen der Hitze nicht ausweichen können. Erschwerend kommt hinzu, dass Angehörige dieser Berufsgruppen häufig auch in klimatisch ungünstigen Wohnvierteln leben. In Stadtvierteln mit wenig Grün, vielbefahrenen Straßen, engstehenden hohen Häusern und einer hohen Bevölkerungsdichte ist es deutlich wärmer als in begrünten und besser durchlüfteten Stadtteilen mit Einfamilienhäusern und Gärten.
Bisher ist das Gesundheitswesen auf Hitzeereignisse nicht oder nicht ausreichend vorbereitet. Es fehlt an Hitzeaktionsplänen in den Ländern, Kommunen und Gesundheitseinrichtungen, an festen Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten, an einem einheitlichen Monitoringsystem und an erprobten und belastbaren Plänen sowohl für die Akutsituation als auch für die langfristige Hitzeresilienz. Aus diesem Grund engagieren sich Ärztinnen und Ärzte gemeinsam mit anderen Berufsgruppen aus dem Gesundheitswesen intensiv für eine Verbesserung des gesundheitsbezogenen Hitzeschutzes, bspw. bei den Hitzeaktionstagen.
Präventionsforen: Impulse für mehr Prävention
Der Aufruf zu einer stärkeren Beachtung von Gesundheitsförderung und Primärprävention richtet sich aber auch an die Ärzteschaft selbst. Gerade in den an der hausärztlichen Versorgung teilnehmenden Praxen bestehen gute Möglichkeiten, gesundheitliche Belastungen frühzeitig zu identifizieren, Patientinnen und Patienten auf diese anzusprechen und zu Verhaltensänderungen v. a. hinsichtlich des Ernährungs- und Bewegungsverhaltens sowie des Suchtmittelkonsums zu motivieren, bspw. über das Rezept für Bewegung. Auch der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) hat diesbezüglich eine bedeutende Rolle („Public Health vor Ort"). Die ärztliche Primärprävention kann relevante Verhaltensänderungen bewirken. Sie ist dabei umso wirksamer, je mehr sie in lebensweltbezogene Maßnahmen eingebunden ist und interne sowie externe Ressourcen der Patienten aktiviert. Primärprävention und Gesundheitsförderung bedürfen, um erfolgreich zu sein, der interdisziplinären Zusammenarbeit und der Netzwerkarbeit vor Ort.
70 Jahre BVPG: kooperieren, koordinieren und vernetzen
Genau hierfür steht die BVPG: Sie bietet der Ärzteschaft die Möglichkeit, sich zu vernetzen, von anderen zu lernen, kompetente Kooperationspartner für gemeinsame Vorhaben zu finden und sich letztendlich in einer breiten Gemeinschaft für die Stärkung von Prävention und Gesundheitsförderung einzusetzen.
Britta Susen | Seit 2022 Leiterin des Dezernates Public Health der Bundesärztekammer (BÄK); von 2017 bis 2022 Leiterin des Dezernates Versorgung und Bevölkerungsmedizin; zuvor Referentin bei der Ärztekammer Nordrhein im Ressort für Allgemeine Fragen der Gesundheits-, Sozial- und Berufspolitik; wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bremen sowie der Universität der Bundeswehr in Hamburg. Studium der Wirtschaftswissenschaften und Soziologie; Masterstudium Medizinrecht.