BVPG-Präsidentin Dr. Kirsten Kappert-Gonther
„Gesundheit als zentrale Aufgabe über alle Politikbereiche hinweg“
Als Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie verbindet Dr. Kirsten Kappert-Gonther, amtierende Vorsitzende des Gesundheitsausschusses, seit 2017 Bundestagsabgeordnete für Bündnis 90/Die Grünen und seit 2022 Präsidentin der BVPG, 25 Jahre praktische Erfahrung mit politischer Expertise und setzt sich für die Etablierung von „Health in All Policies“ ein.
Seit 70 Jahren fungiert die BVPG als Bindeglied zwischen Praxis, Wissenschaft, Wirtschaft und Politik, um die Bedeutung von Gesundheitsförderung und Prävention zu stärken. An diesen Schnittstellen ist auch Dr. Kirsten Kappert-Gonther aktiv.
Gesundheit entwickelt sich im Kontext der Lebenswelt eines Menschen, aus einer Wechselwirkung biologischer, psychologischer, sozialer und gesellschaftlicher Faktoren. Zu häufig aber wird Gesundheit auf die Abwesenheit von Krankheit reduziert und die Verantwortung für den Erhalt und die Förderung beim Individuum abgeladen. Auch Prävention wird häufig noch zu eng gedacht: Der Diskurs beschränkt sich oft noch auf Verhaltensprävention. Dabei ist die Evidenz für Verhältnisprävention gut belegt. Unter Verhältnisprävention wird die Verbesserung von gesundheitsrelevanten Umweltfaktoren, bestenfalls unter Einbeziehung und Mitwirkung der Betroffenen, verstanden.
Sowohl als Bundestagsabgeordnete, als auch als Präsidentin der Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V. (BVPG) setze ich mich dafür ein, dass gesundheitsfördernde Lebenswelten geschaffen werden. Dafür muss Gesundheit auch über die Arbeit im Gesundheitsausschuss hinaus in Gesetzesvorhaben berücksichtigt werden. Es bedarf einer fachlichen, politischen und strukturellen Weiterentwicklung der Bereiche Prävention und Gesundheitsförderung. Gemeinsam mit den Mitgliedern der BVPG setze ich mich dafür ein, dass Gesundheit in jedem Politikfeld mitgedacht wird.
Gesundheit ist mehr als nur die körperliche Verfassung
Gesundheit konstituiert sich im Wesentlichen im Alltag. Wie wir wohnen, arbeiten, unsere Freizeit verbringen oder an Bildung teilhaben – all diese Lebensbedingungen stehen in engem Zusammenhang mit unseren Gesundheitschancen. Wer arm ist und an einer viel befahrenen Straße wohnt, hat ein höheres Risiko zu erkranken, als jemand mit mehr Einkommen, der sich ein Wohnumfeld in der Nähe eines Parks leisten kann. Die Relevanz von sozioökonomischen Merkmalen zeigt auch die Mental Health Surveillance des Robert Koch-Instituts (RKI). Von Mitte 2019 bis Mitte 2022 lagen die Inzidenzen depressiver Symptome für Personen mit niedrigerem Bildungsabschluss höher als die des Durchschnitts oder jeglicher anderer Bildungskategorien. Prävention und Gesundheitsförderung müssen deshalb vor allem auch in den Lebenswelten ansetzen!
„Health in All Policies“ bedeutet, sich bei jedem politischen Vorhaben - gerade auch auf kommunaler Ebene - und bei jedem Gesetzesentwurf die Frage zu stellen: „Welche Auswirkungen haben die Veränderungen auf die Gesundheit der Bevölkerung? Welche Bevölkerungsgruppen sind besonders betroffen?“ Davon profitieren Menschen individuell, da die Entstehung und Chronifizierung von Krankheiten verringert bzw. verhindert werden, und es ergeben sich Vorteile in Bezug auf wirtschaftliche und soziale Folgen für die gesamte Gesellschaft.
Klimaschutz ist Gesundheitsschutz
Die Auswirkungen der Klimakrise auf die körperliche und seelische Gesundheit wurden lange nicht ausreichend in den Blick genommen. Somatische Probleme wie Herz- und Kreislauferkrankungen mit potenziell tödlichen Verläufen, aber auch Frühgeburten nehmen beispielsweise bei Hitzewellen zu. Aber nicht nur das: Hitzewellen gehen auch mit einer erhöhten Inzidenz psychischer Erkrankungen, einer höheren Suizidrate und mehr Psychiatrieeinweisungen einher. Deswegen ist der Satz „Klimaschutz ist Gesundheitsschutz“ eine zentrale Leitlinie meiner Arbeit. Verhältnisprävention, Maßnahmen zur Bekämpfung der Klimakrise und die Anpassung an klimabedingte Veränderungen sind essenzielle, präventive Stellschrauben für die Gesundheitsversorgung der kommenden Jahrzehnte.
„Health in All Policies“: Prävention und Gesundheitsförderung als zentrale politische Leitlinien
Das Umdenken in Richtung „Health in All Policies“ kommt nach und nach auch in der Politik an. So wurde in dieser Legislaturperiode eine vielschichtige bundesweite Aufklärungskampagne zur Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen umgesetzt. In der interministeriellen Arbeitsgruppe „Gesundheitliche Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche durch Corona" wurde beschlossen, Mental Health-Coaches in Schulen einzusetzen und im Jugendstärkungsgesetz Rechtsansprüche auf Beratung und Unterstützung für Kinder und Familien festzuhalten. Eine weitere Interministerielle Arbeitsgruppe, an der eine Vielzahl von Ministerien beteiligt ist, beschäftigt sich derzeit mit dem Thema Hitzeschutz. Solche Maßnahmen setzen früh an und erlauben Prävention und Hilfen bereits außerhalb des Gesundheitssystems.
Auch wenn wir bereits auf verschiedenen Ebenen Erfolge für Prävention und Gesundheitsförderung verzeichnen können, so liegt noch ein langer Weg vor uns. Das Bewusstsein dafür, was gesund hält und krank macht, muss deutlich gestärkt werden. Sowohl auf individueller Ebene – Stichwort „Gesundheitskompetenz“ – , als auch auf gesellschaftlicher und politischer Ebene. Gleichzeitig muss die Partizipation von Betroffenen und Angehörigen eine Selbstverständlichkeit werden. Nur so können gesundheitsfördernde Lebenswelten geschaffen sowie gesundheitliche und soziale Ungleichheiten verringert werden.
Die BVPG setzt sich nun seit 70 Jahren für diese Ziele ein. Als Abgeordnete des Bundestages ist mir meine Präsidentschaft für die BVPG eine Ehre. Denn: Gesundheit als zentrale politische Aufgabe zu erkennen, ist elementar für unsere Demokratie. Ein Gesundheitssystem, welches Menschen frühzeitig erreicht, sie durch das Dickicht leitet, adäquat vorsorgt, in Krisen auffängt und auf das man sich verlassen kann, ist das beste Fundament für Sicherheit und gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Dr. Kirsten Kappert-Gonther | Seit 2017 Mitglied des Deutschen Bundestages (Bündnis 90/Die Grünen) und seit Anfang 2022 amtierende Vorsitzende des Gesundheitsausschusses. Von 2011 bis 2017 Mitglied der Bremischen Bürgerschaft und Sprecherin für Gesundheitspolitik der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Von 2005 bis 2017 eigene Praxis für Psychotherapie in Bremen.