Interview mit Prof. Dr. Jürgen Pelikan
„Gesundheitskompetenz lässt sich leichter beeinflussen als andere Gesundheitsdeterminanten“
Die Gesundheitskompetenz-Studie HLS19 soll u. a. eine empirische Datenbasis für eine evidenzbasierte Gesundheitskompetenzpolitik schaffen und die Bedeutung von Gesundheitskompetenz auf der politischen Ebene stärken. Interview mit Prof. Dr. Jürgen Pelikan, Leiter der HLS19 Studie.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Europa und das Netzwerk zur Messung der Gesundheitskompetenz der Bevölkerung und von Organisationen (M-POHL) haben gemeinsam den „Health Literacy Population Survey 2019-2021 (HLS19)“ initiiert. Insgesamt 17 Länder haben an der Gesundheitskompetenz-Studie teilgenommen, darunter auch Deutschland mit der Universität Bielefeld und der Hertie School Berlin. Die HLS19 Studie ergab, dass im Schnitt fast die Hälfte, 46 Prozent, aller Befragten in den teilnehmenden Ländern über eine geringe Gesundheitskompetenz verfügt. Beunruhigt Sie dieses Ergebnis inmitten der Corona-Pandemie?
In etwa entspricht dieses Ergebnis dem Resultat der früheren HLS-EU Studie (Erhebung 2011 in acht Mitgliedsländern der Europäischen Union), in der zwischen einem Drittel und zwei Dritteln der Befragten je nach Land begrenzte, das heißt inadäquate oder problematische allgemeine Gesundheitskompetenz hatten. In der HLS19 Studie sind es, je nach Land, in etwa zwischen einem Viertel und drei Viertel der Befragten.
Die größere Spannweite der Variation des Anteils kann aber auch sowohl an Änderungen der Methode wie an einer anderen Zusammensetzung der teilnehmenden Länder, diesmal der europäischen WHO-Region, liegen. Je nach Land ist der Anteil derjenigen mit begrenzter Gesundheitskompetenz in beiden Studien beunruhigend – das auch schon unabhängig von der Corona-Pandemie.
Aber in Zeiten der Corona-Pandemie ist geringe Gesundheitskompetenz noch problematischer, da höhere Anforderungen vor allem auch an präventive gesundheitsrelevante Entscheidungen und Handlungen der Bürgerinnen und Bürger und der Patientinnen und Patienten gestellt werden.
In welchen Bereichen ist eine Förderung der Gesundheitskompetenz notwendig?
In der HLS19 Studie wurden neben der allgemeinen Gesundheitskompetenz auch spezifische Gesundheitskompetenzen gemessen: digitale Gesundheitskompetenz, navigationale Gesundheitskompetenz (im Krankenbehandlungssystem), impfbezogene Gesundheitskompetenz und kommunikative Gesundheitskompetenz (mit Ärztinnen und Ärzten).
Für Deutschland liegen Ergebnisse für die digitale, navigationale und kommunikative Gesundheitskompetenz vor. International ist die kommunikative Gesundheitskompetenz eher etwas besser als die allgemeine, während die impfbezogene ungefähr gleich groß ist und die digitale und vor allem die navigationale noch deutlich schlechter als die allgemeine Gesundheitskompetenz sind. Somit ist neben der allgemeinen, impfbezogenen und der kommunikativen vor allem auch eine Förderung der navigationalen und digitalen Gesundheitskompetenz notwendig!
Geringe Gesundheitskompetenz geht mit einem ungesünderen Gesundheitsverhalten, schlechterem subjektiven Gesundheitszustand und einer intensiveren Inanspruchnahme des Gesundheitssystems einher. Die Gesundheitskompetenz hat also Einfluss auf die individuelle Gesundheit und auf die Kosten im Gesundheitssystem. Welche Voraussetzungen schafft die HLS19 Studie, damit gesundheitspolitische Veränderungen möglich sind?
Die HLS19 Studie zeigt Zusammenhänge auf zwischen Gesundheitskompetenz und, was Lebensstile betrifft, vor allem einen positiven Zusammenhang mit mehr physischer Aktivität, bzw. gesünderer Ernährung. Besonders ausgeprägt ist der Zusammenhang mit selbst-eingeschätzter Gesundheit: Befragte mit besserer Gesundheitskompetenz schätzen ihre Gesundheit besser ein, haben eher weniger chronische Krankheiten und sind in ihren Aktivitäten weniger durch chronische Krankheiten oder Gesundheitsprobleme eingeschränkt. Befragte mit besserer Gesundheitskompetenz nahmen tendenziell Gesundheitsdienste, vor allem Notfallambulanzen und praktische Ärztinnen und Ärzte, etwas weniger in Anspruch.
Damit demonstriert die HLS19 Studie, soweit das mit einem cross-sectional Studiendesign überhaupt möglich ist, dass personale Gesundheitskompetenz relevant ist für gesündere Lebensstile, Indikatoren der Gesundheit und Inanspruchnahme des Krankenbehandlungssystems, auch wenn andere mögliche Einflussfaktoren, wie Geschlecht, Alter, Bildung, sozialer Status und finanzielle Situation kontrolliert sind. Aber auch diese Ergebnisse variieren beträchtlich nach Land.
Für gesundheitspolitische Veränderungen ist wichtig, dass sich Gesundheitskompetenz prinzipiell leichter beeinflussen lässt als die „klassischen" sozialen Determinanten der Gesundheit. Wobei zu berücksichtigen ist, dass Gesundheitskompetenz auf zweierlei Weise beeinflusst werden kann: durch Lernangebote zur Verbesserung der personalen Gesundheitskompetenz und/oder durch Verringerungen der Anforderungen der situativen Verhältnisse, die für Gesundheitskompetenz relevant sind. Dabei ist es beispielsweise einfacher und wirksamer, die Lesbarkeit und Verständlichkeit eines Textes zu verbessern als die Lesefähigkeit all jener, für die der Text gedacht ist. Ersteres kann man auch einfach tun, letzteres hängt dagegen von der Lernbereitschaft und Lernfähigkeit anderer ab und erfordert relativ viel Zeit, bis es wirksam wird.
Die Gesundheitskompetenz ist sozial ungleich verteilt. Insbesondere Menschen mit niedrigem sozialem Status und im höheren Lebensalter zeigen eine unterdurchschnittliche Gesundheitskompetenz. Wie und in welchen Bereichen können/müssen hier gezielt Verbesserungen erzielt werden?
Die HLS19 zeigt vor allem, für welche Bevölkerungsgruppen Gesundheitskompetenz problematisch ist und welche Aufgaben als besonders schwierig erlebt werden. International gesehen waren im Hinblick auf Gesundheitskompetenz vor allem Befragte vulnerabel, die ihre Gesundheit als schlecht einschätzten, finanziell depriviert waren, die ihren sozialen Status als schlecht einschätzten oder einen niederen Bildungsgrad hatten. Aufgaben, die als schwierig erlebt wurden, waren vor allem die Vor- und Nachteile von unterschiedlichen Therapien zu beurteilen, wie man sich vor Krankheiten aufgrund von Informationen in den Massenmedien schützen kann, und Informationen zu finden für den Umgang mit psychischen Problemen.
Die Studie erlaubt daher die Planung und Implementation von spezifischen, für bestimmte Adressaten beziehungsweise Aufgaben maßgeschneiderten Interventionen zur Verbesserung der Gesundheitskompetenz im jeweiligen Land. Da die relative Schwierigkeit von vier Arten von Aufgaben gemessen wurde, nämlich gesundheitsrelevante Informationen zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und anzuwenden in den Bereichen Krankenbehandlung, Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung, kann auf diese unterschiedlichen Arten von Aufgaben fokussiert werden.
Insgesamt haben 17 Länder an der HLS19 Studie teilgenommen. Was können wir von Ländern, in denen die Gesundheitskompetenz gut/besser ausgeprägt ist, lernen?
Das ist aufgrund der HLS19 Studie nicht leicht zu beantworten. Die Studie zeigt zunächst nur auf, wie das Niveau der Gesundheitskompetenz in den einzelnen Ländern unterschiedlich verteilt ist und wie stark die Zusammenhänge der Gesundheitskompetenz mit potenziellen Determinanten und Folgen unterschiedlich stark ausgeprägt sind.
Dabei sind Unterschiede zwischen den 17 beteiligten Ländern zum Teil auch ein Ergebnis von etwas unterschiedlichen Erhebungsmethoden in den Länderstudien, von unterschiedlicher demografischer Zusammensetzung ihrer Bevölkerungen, von Unterschieden ihrer Schul-, Gesundheits- und Politiksysteme beziehungsweise von bereits vorhandenen unterschiedlichen Politiken bezüglich Gesundheitskompetenz. Daher ist es schwierig, von den Daten anderer Länder direkt zu lernen.
Aber aus Studien und Überblicksarbeiten über den Erfolg von Vorgehensweisen und Maßnahmen zur Gesundheitskompetenz kann gelernt werden, was, wo, unter welchen Bedingungen erfolgreich war. Solche Arbeiten sind zum Beispiel die WHO-Publikation „Gesundheitskompetenz – Die Fakten“ (2016) (PDF), oder eine neuere Studie, „Health Literacy: What lessons can be learned from the experiences and policies of different countries“ (Adriaenssens et al., 2021).
Im November 2021 wurden die Ergebnisse der HLS19 Studie vorgestellt. Welche nächsten Schritte sind nun geplant?
Im internationalen M-POHL Konsortium beziehungsweise der HLS19 Studie geht es vor allem um weitere Auswertungen und Publikationen der Daten zu spezifischen inhaltlichen und methodischen Fragestellungen, auch zur Vorbereitung der nächsten Erhebung 2024 und um die Erarbeitung von Fact Sheets zur leichteren Verbreitung der neuen Messinstrumente. Weiterhin wird neben der WHO auch mit der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) kooperiert werden.
Auch sollen Projekte zur Messung der organisationalen Gesundheitskompetenz, wie zum Beispiel in Krankenhäusern, gestartet werden. Das alles wird auch von der WHO-Europa unterstützt und die Ergebnisse werden auch in deren Initiativen einfließen. Interventionen zur Verbesserung der Gesundheitskompetenz werden aber vor allem in den einzelnen Ländern unter Berücksichtigung ihrer besonderen Ergebnisse und der jeweiligen nationalen Gegebenheiten durchgeführt werden.
Für Deutschland heißt das, an den bereits auf Basis der HLS-EU Untersuchung erstellten „Nationalen Aktionsplan Gesundheitskompetenz“ und dessen fünf Strategiepapiere „Gesundheitskompetenz im Erziehungs- und Bildungssystem fördern“, „Gesundheitskompetenz in die Versorgung von Menschen mit chronischer Erkrankung integrieren“, „Den Umgang mit Gesundheitsinformationen in den Medien erleichtern“, „Gesundheitskompetenz als Standard auf allen Ebenen im Gesundheitssystem verankern“ sowie „Gesundheitskompetenz systematisch erforschen“# anzuschließen.
Auch die Ergebnisse der zusätzlichen Studie „Gesundheitskompetenz von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland“ und von Studien zum möglichen Einfluss der Corona-Pandemie sollten mit einbezogen werden. An der Weiterentwicklung des Nationalen Aktionsplans arbeitet bereits eine internationale Expertengruppe.
Die Fragen stellte Ulrike Meyer-Funke, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V. (BVPG).
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Univ.-Prof. Dr. phil. Jürgen M. Pelikan | Emeritierter Professor am Institut für Soziologie an der Universität Wien; Direktor des WHO-Kooperationszentrums für Gesundheitsförderung in Krankenhaus und Gesundheitswesen an der Gesundheit Österreich GmbH. Leiter von internationalen und nationalen Projekten zur Gesundheitsförderung (Health Promoting Hospitals, Health Promotion in General Practice and Community Pharmacy, Migrant Friendly Hospitals), zur Qualitätsentwicklung und zur Integration der Versorgung im Gesundheitswesen, und derzeit vor allem zur personalen und organisatorischen Gesundheitskompetenz.