Interview mit Dr. Katharina Böhm
„Die Umsetzung von Health in All Policies erfordert die Beteiligung ALLER!“
Dr. Katharina Böhm, Geschäftsführerin der Hessischen Arbeitsgemeinschaft für Gesundheitsförderung e.V. (HAGE), über das erste deutschsprachige HiAP-Standardwerk „Gesundheit als gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Das Konzept Health in All Policies und seine Umsetzung in Deutschland“.
Um Gesundheit und Wohlbefinden der Bevölkerung zu erlangen, gilt das Konzept „Gesundheit in allen Politikbereichen“ (Health in All Policies, HiAP) als vielversprechend. Einige Länder in Europa, wie z.B. Finnland, und weltweit, wie z. B. Neuseeland, zeigen erste Erfolge mit der Umsetzung einer intersektoralen Gesundheitspolitik. In Deutschland gibt es bereits erste Ansätze. Auch das Präventionsforum, der Informations- und Erfahrungsaustausch zwischen der Nationalen Präventionskonferenz und der Fachöffentlichkeit, widmete sich im Jahr 2020 diesem Fachthema.
Frau Dr. Böhm, Sie sind Mitherausgeberin des ersten Standardwerkes zum Thema Health in All Policies, kurz HiAP, in Deutschland. Wo stehen wir?
Genau das wollten wir mit dem Buch herausfinden! Der HiAP-Ansatz ist ja nicht neu. Die Forderung nach intersektoraler Zusammenarbeit findet sich schon in der Erklärung von Alma Atta, die dann in der Ottawa Charta zur einer Forderung nach einer gesundheitsförderlichen Gesamtpolitik (healthy public policies) weiterentwickelt wurde. Der HiAP-Ansatz geht noch einen Schritt weiter, indem er die Komplexität moderner Gesellschaften und der damit einhergehenden, eher netzwerkartigen Politikgestaltung berücksichtigt.
HiAP bedeutet eine strategische Zusammenarbeit aller Politikebenen und -felder (whole of government) sowie eine Zusammenarbeit aller Sektoren, also staatlich, gesellschaftlich und privat (whole of society).
Was heißt das nun für Deutschland?
Obwohl der HiAP-Ansatz nicht neu ist, wissen wir ziemlich wenig über die Umsetzung in Deutschland, weil es hierzu kaum Forschung gibt. Zudem gibt es viele Initiativen und Maßnahmen, die den Gedanken von HiAP verfolgen, ohne dass dies dabei explizit gemacht wird. Unser Buch ist eine Art Bestandsaufnahme der Umsetzung von HiAP in Deutschland.
Wir haben deshalb Expertinnen und Experten aus vielen unterschiedlichen Politikfeldern gefragt, welche Rolle Gesundheit in ihrem Politikfeld spielt und welche Herausforderungen und Chancen sie in der Berücksichtigung von Gesundheitsaspekten sehen. Zusätzlich haben wir Praxisbeispiele recherchiert, um möglichst viele unterschiedliche Umsetzungsbeispiele aufzeigen zu können.
Die Beiträge in unserem Band zeigen, dass es viele HiAP-Aktivitäten auf allen politischen Ebenen gibt. Gleichzeitig machen sie aber auch deutlich, dass die HiAP-Umsetzung in Deutschland erst am Anfang steht.
Woran machen Sie das fest?
Gesundheit und gesundheitliche Chancengleichheit werden in Deutschland bislang in kaum einem Politikfeld umfassend und systematisch berücksichtigt. Es gibt einige Politikfelder, wie beispielsweise Umweltschutz und Bildung, in denen Gesundheit in gesetzlichen Grundlagen und Konzepten mitverankert ist. Es gibt aber auch viele Politikfelder, in denen der Gesundheitsbezug auf einzelne Themen beschränkt bleibt. Wenn Gesundheit berücksichtigt wird, dann oft eher mit dem Ziel der Vermeidung von Gesundheitsgefahren und/oder einem Fokus auf medizinische oder verhaltensbezogene Maßnahmen. Eine gesundheitsförderliche Perspektive findet sich selten.
Die Praxisbeispiele in unserem Buch beschreiben zudem, wie schwierig es oftmals ist, intersektorale Kooperationen umzusetzen. Sie machen aber gleichzeitig auch Mut, dass eine Umsetzung gelingen kann, wenn politischer Wille, eine offene Haltung und Transparenz sowie die Berücksichtigung der Bedürfnisse und Ressourcen aller Beteiligten gegeben sind.
Mit der Konzertierten Aktion Pflege (KAP) und der Offensive Psychische Gesundheit (OPG) ist ressortübergreifende Zusammenarbeit in Deutschland bereits vorzufinden, auch das Präventionsgesetz spielt eine Rolle in der Implementierung von HiAP. Sind das denn nicht bereits Schritte in die richtige Richtung?
Ja, das stimmt. Bei den beiden genannten Initiativen ist durch die Beteiligung mehrerer Bundesministerien, zahlreicher Sozialversicherungsträger, Verbände und anderer zivilgesellschaftlichen Akteure sowohl ein whole of government- als auch ein whole of society-Ansatz verwirklicht. Die OPG hat sich zudem zum Ziel gesetzt, eine Bestandsaufnahme der Präventionsangebote in Deutschland zu machen, gemeinsame Ziele zu definieren und die bestehenden Angebote besser zu vernetzen. Am Ende des Prozesses könnte somit eine von vielen Akteuren getragene Strategie zur Verbesserung der Prävention psychischer Erkrankungen stehen.
Wo sehen Sie hemmende Faktoren, die einer breiteren Umsetzung des HiAP-Ansatzes im Wege stehen?
Das Präventionsgesetz zeigt sehr deutlich die Hürden bei der Umsetzung von HiAP in unserem föderalen System. Das Gesetz verpflichtet ausschließlich die Sozialversicherungsträger, in der Gesundheitsförderung und Prävention tätig zu werden. Andere relevante Präventionsakteure sind zwar zum Teil im Gesetz genannt, konnten aber aufgrund der begrenzten Handlungsmacht des Bundes bei der Gesundheitsförderung und Prävention nicht vom Gesetzgeber zum Handeln verpflichtet werden.
Eine Präventionsstrategie im Sinne von HiAP würde aber eine Beteiligung ALLER Akteure, von den Kommunen über die Länder bis hin zu den zivilgesellschaftlichen Akteuren aus allen gesundheitsrelevanten Bereichen erfordern. Diese müssten in einem partizipativen Prozess auf Grundlage einer umfassenden Bestands- und Bedarfsanalyse gemeinsame Ziele definieren. Danach müssten entsprechende, abgestimmte Maßnahmen für die einzelnen politischen Ebenen und Akteure formuliert werden. Von einer solchen Gesamtstrategie sind wir in Deutschland aber noch sehr weit entfernt. Hier sind andere Länder wie Neuseeland oder die Niederlande schon sehr viel weiter.
Sie schreiben, dass die Maßnahmen sich bislang eher am Gesundheitsschutz als an der Gesundheitsförderung orientieren. Wie kann es gelingen, dass die gesundheitsförderlichen Aspekte noch mehr Beachtung finden?
Grundsätzliches Ziel muss es sein, die gesamte Bevölkerung mit einem salutogenen Gesundheitsverständnis vertraut zu machen und über die Determinanten von Gesundheit zu informieren. Dies gilt insbesondere für Fachexpertinnen und Fachexperten anderer Politiksektoren. Sie müssen befähigt werden, gesundheitsförderlich zu handeln.
Gleichzeitig benötigen wir Gesundheitsexpertinnen und Gesundheitsexperten, die über Fachexpertise in anderen Bereichen verfügen, um dort bei Entscheidungsprozessen eine gesundheitsförderliche Sichtweise einbringen zu können. Dies sind zwei der zentralen Erkenntnisse, die wir bei der Arbeit an dem Sammelband gewonnen haben.
Zudem müssen Prozesse etabliert werden, die bei allen relevanten Entscheidungen sicherstellen, dass Gesundheit in einem umfassenden Verständnis mitgedacht wird.
Am Ende des Buches bündeln Sie Ihre Erkenntnisse in acht Thesen.
Ja, zwei hatte ich gerade genannt:
- Akteure anderer Politikfelder sind mit einem salutogenen Gesundheitsverständnis vertraut zu machen.
- Gesundheitsexpertinnen und Gesundheitsexperten benötigen Policy-Wissen für die Kooperationen.
Die anderen sechs Thesen lauten:
- HiAP bedarf der politischen Unterstützung.
- Kommunen sind Vorreiter bei der Umsetzung von HiAP.
- HiAP erfordert eine Politikfelder und -ebenen übergreifende Strategie.
- Die Sustainable Development Goals und deren Umsetzung bieten einen guten Bezugspunkt, um HiAP voranzubringen.
- Ein erhöhter Problemdruck bietet die Chance, HiAP substanziell weiterzuentwickeln.
- HiAP erfordert häufig die Aushandlung gegenläufiger Interessen.
Für die Menschen, die im Feld der Gesundheitsförderung und Prävention tätig sind, sind das alles vermutlich keine überraschenden Ergebnisse. Mit unserem Sammelband zielen wir aber vor allem auch auf Interessierte, die nicht aus dem Gesundheitsfeld kommen und sich eventuell das erste Mal mit dem Thema auseinandersetzen.Wir wollen mit diesen Thesen den intersektoralen Austausch anregen und die Diskussion um die Umsetzung von HiAP in Deutschland voranbringen!
Nun gibt es ja den Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst, der die Gesundheitsämter in den nächsten Jahren auf vielen Ebenen stärken soll. Was ist denn aus Ihrer Sicht notwendig, damit der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) in Zukunft eine stärkere Rolle bei der Umsetzung von HiAP einnehmen kann?
Zum einen braucht es Fachkräfte mit vielfältigen Expertisen, die die Aufgabe übernehmen können, Gesundheitsinteressen bei Fachentscheidungen in anderen Ressorts, beispielsweise bei Stadtentwicklungsprozessen, der Umweltplanung oder Sozialplanung, zu vertreten. Zum anderen bedarf es auch einer Stärkung der Steuerungsrolle des ÖGD auf kommunaler Ebene.
HiAP ist ein strategischer Prozess, der strukturiert, moderiert und organisiert werden muss. Diese Aufgaben kann der ÖGD aber nur übernehmen, wenn ausreichend Ressourcen und entsprechendes Fachpersonal vorhanden sind!
Die Fragen stellte Linda Arzberger, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V.
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Dr. Katharina Böhm | Seit Juli 2020 Geschäftsführerin der Hessischen Arbeitsgemeinschaft für Gesundheitsförderung e.V. (HAGE); davor Juniorprofessorin für Gesundheitspolitik an der Ruhr-Universität Bochum mit den Arbeitsschwerpunkten: kommunale Gesundheitspolitik, Präventionspolitik, Health in All Policies und internationaler Gesundheitssystemvergleich.
Die Hessische Arbeitsgemeinschaft für Gesundheitsförderung e.V. (HAGE) wurde 1958 mit dem Ziel gegründet, die Gesundheit der hessischen Bevölkerung zu verbessern. Sie versteht sich als Brückeninstanz zwischen Praxis, Wissenschaft und Politik und wirkt als Interessensvertretung für Gesundheitsförderung. Die HAGE initiiert und koordiniert die Entwicklung und Umsetzung von Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Prävention u. a. in den Bereichen Gesundheitliche Chancengleichheit, Gesund aufwachsen, bleiben und altern.