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Digitalisierung im Gesundheitswesen

Daten- und Digitalgläubigkeit entzaubern: Interview mit Dr. Dieter Korczak

In dem soeben erschienenen Buch „Digitale Heilsversprechen. Zur Ambivalenz von Gesundheit, Algorithmen und Big Data“ setzen sich die Autorinnen und Autoren kritisch mit der Digitalisierung im Gesundheitswesen auseinander. Im Interview stellt sich der Herausgeber Dr. Dieter Korczak den Fragen der BVPG.

Cover der Publikation Digitale Heilsversprechen
© Mabuse-Verlag GmbH

 


Herr Dr. Korczak, wer sollte das Buch „Digitale Heilsversprechen“ lesen und warum?

Das Buch „Digitale Heilsversprechen“ wendet sich an Menschen im Gesundheitswesen, insbesondere an User von mHealth-Apps. Dann an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die zum Thema Digitalisierung im Gesundheitssystem arbeiten. Schließlich an Entscheider in der Gesundheitspolitik, in den Krankenkassen und in den Ärzteverbänden. Letztlich an alle, die im Bereich Prävention und Gesundheitsförderung tätig sind, denn das Buch greift viele Fragen auf, die im direkten und indirekten Zusammenhang mit der Anwendung von digitalen Tools zur primären, sekundären und tertiären gesundheitlichen Prävention stehen.


Wie der Untertitel schon sagt, geht es um die „Ambivalenz von Gesundheit, Algorithmen und Big Data“. Nun erfährt ja die „Ambivalenz“ keine ausgewogene Darstellung, sondern die Beiträge nehmen vor allem die Schattenseiten der digitalen Transformation in den Blick. Worin sehen Sie denn die größte Bedrohung für die Einzelnen und deren Gesundheit?

Zunächst bin ich nicht Ihrer Ansicht, dass in dem Buch die Ambivalenz der digitalen Transformation nicht ausgewogen dargestellt wird. Ganz im Gegenteil werden in jedem Beitrag auch Chancen und mögliche Vorteile von digitalen Anwendungen oder mHealth-Apps geschildert. In meinem eigenen Beitrag zur digitalen Selbstvermessung finden Sie zum Beispiel die Ergebnisse einer PubMed-Recherche zu internationalen Studien, die sich mit der Wirksamkeit von „Healthcare Wearables“ befassen. Es werden auch die Erwartungen von Anwendern der mHealth-Apps beschrieben und die Chancen und Risiken miteinander verglichen (s. Tabelle 4, S.132).

Wir verstehen Ambivalenz als Prinzip der Zweiseitigkeit, als „die Einheit von Gegensätzen ohne Synthese“. (Korczak, D. (Hrsg.): Ambivalenzerfahrungen. 2012: 7) Wie im Untertitel ausgedrückt, sind für uns die Gegensätze eine salutogenetisch bio-psycho-sozial ausgerichtete Gesundheit auf der einen Seite, eine Algorithmen- und Big Data-basierte Gesundheit auf der anderen Seite.

Die möglichen Vorteile der digitalen Transformation werden von der Wirtschaft und der Politik sehr stark beworben – allein heute habe ich zu diesem Suchbegriff 4,0 Mio. Hits bei Google erhalten. Die Nachteile werden in weit geringerem Maße erörtert (1,1 Mio. Google-Hits). Unsere Position ist, dass die Komplexität gesunder menschlicher Entwicklung in ihren mehrdimensionalen Dynamiken und ihrer gesellschaftlichen Rückkopplung auf das individuelle, soziale, kulturelle und globale Leben wieder stärker in den Vordergrund gerückt werden sollte. Wir sehen die industriell und technologisch stark verbreitete Suggestion – wir nennen das Heilsversprechen –, dass das Leben des Einzelnen durch „Digitalisierung“ verbessert bzw. optimiert werden kann. Diese Suggestion, zu der eben auch die Anwendung von Algorithmen und Big Data gehört, ist eine große Bedrohung. Wir haben sie in unseren Beiträgen entzaubert. Eine weitere Bedrohung, ja sogar Entwertung des Menschen liegt darin, dass sie als reine Datenlieferanten betrachtet werden, deren Vitaldaten gewinnbringend von Dritten verwendet werden.


Welchen Gewinn hat denn jemand, der in der Prävention und Gesundheitsförderung tätig ist, von der Lektüre Ihres Buches?

Das Buch betrachtet verschiedene Aspekte der digitalen Transformationsprozesse im Gesundheitswesen und deren Wirkung auf das gesellschaftliche Zusammenleben. Die Beiträge sind interdisziplinär – Medizin, Psychiatrie, Pflegewissenschaft, Soziologie, Digitaldesign und Informatik sind vertreten. Das Buch berücksichtigt die aktuellen Studienergebnisse, die Leserinnen und Leser werden über den State of the Art und komplexe Zusammenhänge informiert.

In dem umfangreichen Beitrag von Johann Behrens wird der Konflikt zwischen selbstbestimmter gleichberechtigter Teilhabe am Leben und „Digitalisierung“ ausführlich diskutiert. Theo Petzold und Felix Tretter befassen sich aus systemischer Sicht mit der Frage, ob eine gesunde Entwicklung „Digitalisierung“ braucht. Die systemische Sichtweise hat ja zwei grundlegende Merkmale: Erstens erkennt sie komplexe Ganzheiten an und zweitens zieht sie Beziehungen und ihre wechselseitigen Dynamiken in Betracht. In dem Beitrag der Informatikerin Sylvia Johnigk wird die Ökonomisierung gesundheitlichen Handels dargestellt. Der Geldwert der Gesundheitsdaten der deutschen Versicherten entspricht gegenwärtig 4,5 Milliarden Euro. Ethische Fragen sowie Fragen der Grundrechte werden komprimiert von Ralf Lankau behandelt. Die Autorinnen und Autoren dieses Buches lassen die Leserinnen und Leser auch nicht allein, wenn es um Schlussfolgerungen geht. Am Ende jedes Beitrags werden Thesen formuliert, was zu tun wäre.


Wessen Aufgabe wäre es denn sicherzustellen, dass die „menschliche Autonomie die Vormachtstellung über Software-Algorithmen und digitale Transformationsprozesse“ behält?

Aufgrund der immanenten Autorität digitaler Daten stärken sie nicht die Autonomie ihrer Anwenderinnen und Anwender, sondern reduzieren sie. Sie wirken in Richtung auf Empowerment kontraproduktiv, da sie zum Verlust der Alltagskompetenz führen. Die Health Literacy (Gesundheitskompetenz) muss in diesem Feld erhöht werden.

Hinsichtlich der Qualität digitalisierter Anwendungen und Software-Algorithmen gibt es so gut wie keine objektive kritisch-abwägende Kommunikation bei den Gesundheitsberufen. Es muss darauf gedrungen werden, dass die impliziten und expliziten Heilsversprechen zur Digitalisierung durch Ministerien, Unternehmens-Lobbys sowie Krankenkassen ethischen Standards entsprechen und sozialen, juristischen und medizinischen Prüfkriterien standhalten. In dem Buch werden einige Vorschläge zu einer Kontrolle der Anwendungen von Gesundheitsinformations- und Kommunikationstechnologien formuliert. Darunter fallen beispielsweise die Kontrolle der technischen Effizienz, der patientenbezogenen Effektivität, der Messreliabilität und -validität. Deshalb muss die Zulassung von mHealth-Apps einem strengen Technology-Assessment unterliegen. Es sollten daher gesetzliche Regulierungen getroffen werden, die eine Prüfung der zu Grunde liegenden Algorithmen durch unabhängige und neutrale Kontrollorgane zur Pflicht machen.

Statt permanenter Datenmaximierung nach der Logik der IT-Konzerne müssen Datenschutz, Datenvermeidung und Datenreduktion zu den obersten Geboten der neuen Datenwirtschaft werden. Dazu zählen als weitere Prämissen Datensparsamkeit, Dezentralisierung der technischen Infrastruktur, freier Zugriff der Nutzerinnen und Nutzer auf ihre und generelle Löschfrist für alle nicht mehr benötigten Daten. Personenbezogene Daten dürfen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Nutzer genutzt und kommerzialisiert werden! Die Daten- und Digitalgläubigkeit muss durch Aufklärung aufgebrochen werden.


Vielen Dank für das Interview, Herr Dr. Korczak.


Die Fragen stellten Dr. Beate Grossmann und Inke Ruhe.


Dieter Korczak (Hrsg.)
Digitale Heilsversprechen. Zur Ambivalenz von Gesundheit, Algorithmen und Big Data
195 Seiten
Softcover
ISBN 978-3-86321-544-6
Mabuse Verlag, Frankfurt am Main; 2020
€ 29,95 (D)