Interview mit Dr. Rüdiger Krech
„Diese COVID-19-Pandemie ist ein Weckruf“
Auch wenn die COVID-19-Pandemie auf den ersten Blick nicht als ein Kernanliegen der Gesundheitsförderung erscheinen mag, so könnte sich Gesundheitsförderung jetzt als wichtiger denn je erweisen, sagt Dr. Rüdiger Krech, Direktor für Gesundheitsförderung bei der Weltgesundheitsorganisation.
Herr Dr. Krech, können wir schon Lehren aus der COVID-19-Pandemie ziehen?
Diese COVID 19-Pandemie ist ein Weckruf für uns alle und möglicherweise sogar der letzte, den wir bekommen können.
Um einer nächsten Pandemie vorzubeugen, müssen wir in Deutschland, Europa und weltweit drastische, umfängliche Veränderungen vornehmen – und zwar in der Art und Weise, wie wir unsere Gesellschaften gestalten und wie wir Gesundheit in Entscheidungen unterschiedlicher Sektoren einbeziehen.
Wir haben jetzt gesehen: die letzten Epidemien entstanden alle durch Entscheidungen und Vorgänge außerhalb des Gesundheitssektors – angefangen bei der Vogelgrippe über die Schweinegrippe und Ebola bis hin eben jetzt zu SARS-CoV-2. Diese Epidemien hatten alle etwas damit zu tun, wie wir Urbanisierung vorantreiben, wie wir die Distanz zwischen der Tierwelt und uns Menschen immer stärker eingeschränkt haben. Das führt dazu, dass Viren vom Tier auf den Menschen überspringen.
Darüber hinaus gibt es etliche andere Risiken auf der Welt, die zu einer Epidemie oder Pandemie führen können. Wenn wir diese nicht ursächlich in den Griff bekommen, dann ist die Wahrscheinlichkeit einer nächsten Pandemie, die möglicherweise noch viel schlimmer ist, hoch.
Kommen wir noch einmal auf die Ursachenbekämpfung zurück: Welchen Beitrag kann die Gesundheitsförderung leisten? Wird in der Folge von COVID der Health in All Policies-Ansatz gestärkt? Oder könnte es nicht vielmehr eine rollback-Bewegung geben, die gerade angesichts der Bedeutung von Infektionskrankheiten auf den medizinischen Ansatz der Prävention, z.B. Impfungen, setzt?
Zunächst mal verweisen Sie ja ganz richtigerweise auf die Instrumente, die wir in der Gesundheitsförderung seit Ottawa, also seit fast 35 Jahren, haben, also gesundheitsfördernde Gesamtpolitiken, die wir heute vielleicht „Gesundheit in allen Politikbereichen“ oder aber auch „joined-up government“ nennen, also eine sektorübergreifende Politikgestaltung, die die Bedürfnisse der Menschen einbezieht. Ein solcher Ansatz, der von der Gesundheitsförderung entwickelt worden ist, wurde nun auch von UN-Generalsekretär Antonio Gutterres gefordert und gerade auf der UN-Generalversammlung verabschiedet.
Unsere langjährige Erfahrung in der Gesundheitsförderung, die nun bei der Aufgabe wichtig ist, wie wir unsere Gesellschaften nach der Krise umbilden, zeigt: Es wird auch bei einer sektorübergreifenden Politikgestaltung nicht so sein, als hätten wir in solchen Verfahren oder mit mehr Bürgerbeteiligung keine Interessenskonflikte mehr. Aber die Entscheidungsträger wissen genauer, auf was sie sich einlassen, was die möglichen Konsequenzen ihres Handelns sind; wie man Kompromisse schließen und wertgeleitete „trade-offs“ herbeiführen kann – und das ist so, wie wir in der Gesundheitsförderung seit 35 Jahren mit unseren Partnern arbeiten und zusammen lernen.
Nehmen wir das Beispiel der Eingrenzung und Bekämpfung des Ebola-Virus. Da haben wir festgestellt, dass ohne Bürgerbeteiligung die Akzeptanz von Gesundheitsfachkräften von außen extrem gering war. Also haben wir dort mit den Gesundheitshelfern vor Ort wirklich „klassisches“ Sozialengagement angewendet – und das hat dann dazu geführt, dass die Akzeptanz größer wurde, dass eben zum Beispiel Quarantäne-Maßnahmen umgesetzt werden konnten.
Die Gefahr einer „Rückwärtsrolle“ sehe ich nicht. Denn wir erkennen ja jetzt: Es dauert, ehe ein Impfstoff für die Welt entwickelt und zugänglich gemacht werden kann. Wir sehen gerade, das geht alles nicht im Handumdrehen. Die Entwicklung von Impfstoffen ist eine unglaublich komplizierte Angelegenheit. Die Weltgemeinschaft lernt gerade, dass dieses Virus ohne Einbeziehung der Menschen in die Bekämpfung, ohne gemeindeorientiertes Handeln, ohne Akteursanalysen, ohne Gesundheitskompetenz, also ohne die klassischen Gesundheitsförderungs-Instrumente, nicht einzudämmen ist.
Das sind ja dann auch die Instrumente, die auch in Deutschland anzuwenden wären und greifen müssten...
Ja, genau. Wenn wir uns jetzt anschauen, wie Deutschland nach der Krise aussehen könnte, dann ist es nicht nur wichtig, dass wir Gesundheit sehr viel stärker in den Blick nehmen und Risiken bewerten, die durch ein globalisiertes Handeln in Deutschland auch für mögliche Pandemien existieren, sondern auch genauer darauf achten, wie wir unsere Städte, unser Zusammenleben oder unsere Mobilität gestalten.
Wir sehen auch noch etwas anderes: Wenn wir auf den Planeten besser achten, hat das auch immense positive Auswirkungen auf die Gestaltung unseres gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens.
In welcher Rolle sehen Sie denn dann die Gesundheitsförderer? Sind sie die Treiber dieser gesellschaftlichen Veränderungen?
Es sind ganz konkrete Funktionen, die die Gesundheitsförderung nicht nur in der Pandemie ausübt und auch für die Politikgestaltung hat. Epidemiologen stellen die Daten zur Verfügung und bereiten Quarantänemaßnahmen vor, aber beispielsweise die Akzeptanz dafür herzustellen oder die unterschiedlichen Interessen zusammenzubringen, das sind Aufgaben der Gesundheitsförderung.
Nehmen wir mal die widerstreitenden Vorschläge, die Wirtschaft schnell wieder in Gang zu bringen, oder auch die Mobilität, insbesondere den Flugverkehr, wieder schnell hochzufahren und das mit den möglichen Risiken für eine zweite und dritte COVID-19-Welle abzuwägen. Diese Interessen zusammenzubringen, zu kommunizieren, mit unterschiedlichen Interessensgruppierungen zu interagieren, das sind alles Rollen der Gesundheitsförderung, für die sie geeignete Instrumente entwickelt hat.
Gesundheitskompetenz gehört auch dazu, also dass Menschen gesundheitliche Risiken richtig einzuschätzen wissen und eigenverantwortlich handeln können. Das ist in Deutschland ja bisher mit Hilfe der großen Mehrheit der Bevölkerung herausragend gelungen. Natürlich gibt’s „Ausreißer“, aber wenn ich das mit vielen anderen Ländern vergleiche, haben in Deutschland die Menschen bis jetzt dazu beigetragen, viele Menschenleben zu retten. Das ist ein riesiger Erfolg – für das ganze Land, für dessen Zusammenhalt und die Gesundheit in Deutschland. Ob dies auch so bleibt, wird wieder davon abhängen, ob die Entscheidungsträger die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen in ihre Entscheidungen einbeziehen, ob diese Entscheidungen für die Menschen nachvollziehbar sind und ihnen angemessen erscheinen. Um das zu erreichen, brauchen sie wiederum die Instrumente der Gesundheitsförderung.
Die Akteurinnen und Akteure der Gesundheitsförderung leisten also bereits einen spezifischen Beitrag zur Bewältigung der Krise....
Ja genau, das kann man für eine Phase danach in Deutschland, Europa und global wertschätzen: Wir können diesen Instrumentenkasten der Gesundheitsförderung für das Design unserer Gesellschaften nochmals neu anbieten.
Und dieser Instrumentenkasten umfasst, was wir schon aus der Ottawa Charta kennen?
Exakt, wir müssen das jetzt natürlich übertragen, und zwar nicht nur sprachlich von der Ausdrucksweise der 80er Jahre auf heute, sondern vor allem im Hinblick auf die gewaltigen Umwandlungsprozesse, in denen wir uns im Moment schon befinden und die noch auf uns zukommen.
A propos Transitionsprozesse: Die Digitalisierung gehört untrennbar dazu bzw. löst diese aus und verstärkt sie. Welche Auswirkungen hat das denn auf die Gesundheitsförderung?
Wenn man sich anschaut, wie Zukunftsforscher und Makroökonomen Veränderungsprozesse deuten, dann sagen viele, dass ein Innovationszyklus, also der Zeitraum, um eine gesamte neue Technologie zu entwickeln, in den 90er Jahren noch 20 Jahre betrug, derzeit fünf und demnächst nur drei Jahre. Wir leben in einer immer schneller werdenden Zeit des technischen Wandels. Insofern werden wir zukünftig viele Veränderungen erleben, die unser Alltagsleben vollständig verändern.
Denken Sie nur mal, wie unser Alltagsleben vor dem Smartphone aussah – und das sind gerade etwas über zehn Jahre her. Versetzen wir uns jetzt mal in die Zukunft, 20 Jahre weiter. Was heißt das für uns, wenn die Innovationszyklen immer schneller werden? Dann brauchen wir eine erhöhte Adaptationsfähigkeit, so dass wir uns mit gutem Mut auf diesen Wandel einlassen können.
Aber bedenken wir auch: Nicht jeder Wandel ist auch gesundheitsförderlich. Die Frage ist: Wie bringen wir da Gesundheit mit hinein? Welchen Wandel lassen wir zu? Welchen sollten wir besser nicht zulassen? Das ist aus unserer Sicht derjenige, der uns nicht mehr Gesundheit und Wohlbefinden ermöglicht und nicht mit dem Wohl und den Heilungschancen unseres Planeten im Einklang ist.
Das heißt für unseren Instrumentenkasten, dass wir ihn anpassen müssen. Wir brauchen zum Beispiel bessere Gesundheitsverträglichkeitsprüfungen, und zwar nicht nur welche, bei denen wir ex post Effekte nachvollziehen, sondern Verträglichkeitsprüfungen, die die möglichen gesundheitlichen Effekte für solche Technologien begutachten oder bewerten, die technisch möglich wären oder jetzt im Moment in der Entwicklung sind.
Dann braucht es dafür natürlich auch stärkere Mechanismen der Regierungsführung, die gesundheitsförderliche Entwicklungen befürworten.
Was erneut bedeutet, die gesündere Wahl zur leichteren Wahl zu machen...
Ja, ganz genau, darauf kommen wir immer wieder zurück. Das ist so aktuell wie nie zuvor.
D. h. Instrumentenkasten an Transformationsprozesse anpassen, ohne dass wir unsere Werte und das humanistische Ideal oder besser: Erbe aufgeben?
Ja, auch da wieder, so wie zuvor: Wir sind wirklich an einem Scheideweg. Wenn wir es nicht schaffen, Chancengleichheit herzustellen, wenn immer mehr Menschen aus diesen Transitionsprozessen herausfallen, nicht teilhaben können und wir nicht die Solidarität in unseren Gesellschaften stärken, dann werden immer mehr Menschen extreme Verhaltensweisen zeigen.
Das beobachten wir ja im Moment in solchen Ländern, die eben nicht auf Chancengleichheit setzen. Eine solche Gesundheitskrise wie COVID-19 ist ein Lackmustest, der zeigt, wo Schwächen in den Gesellschaften sind. Wenn Sie sich die Infiziertenzahlen angucken, ist das die Rechnung, die man dafür bekommt. Das zeigt auch wieder, dass Menschenrechte, Chancengleichheit, universeller Zugang zu Gesundheits- und Sozialleistungen und Bildung und Förderung von Gendergleichheit entscheidend sind.
Das sind keine abstrakten politischen Forderungen, sondern diese Werte müssen Eckpfeiler eben dieses Handelns sein. Wenn man Politik nicht auf diesen Pfeilern aufbaut, sieht man nun allzu deutlich, welche Auswirkungen es hat.
Insofern ist Gesundheit „Seismograph für Entwicklung“ und so wichtig wie nie zuvor. Das hat Deutschland sehr, sehr gut verstanden – und nicht nur in der Krise.
Schauen Sie sich an, welches Land das Thema „Gesundheit“ in die G7- und G20-Agenden aufgenommen hat und wie das bei den Vereinten Nationen gelaufen ist. Da kommt Deutschland eine Führungsposition zu. Dem haben sich zum Glück viele andere Länder angeschlossen, um Globalisierung auf diesem Wertekanon, den wir gerade angesprochen haben, aufzubauen. Das ist doch der Weg, den Deutsche und Europäer weiter gehen sollten.
Die Fragen stellte Dr. Beate Grossmann, Geschäftsführerin der Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V.
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Dr. Rüdiger Krech | Seit 2019 Abteilungsleiter für Gesundheitsförderung bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Genf. Dr. Krech leitet die Arbeit der WHO zu Risikofaktoren wie Tabakkonsum und schädlichen Konsum von Alkohol und verantwortet die Arbeit zu gesundheitsförderlichen Settings sowie Programme zu mehr Bewegung. Zuvor Direktor für Gesundheitssysteme und allgemeine Gesundheitsversorgung (Universal Health Coverage) und Direktor für Soziale Determinanten von Gesundheit und Chancengleichheit bei der WHO; Erziehungs- und Gesundheitswissenschaftler.