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Interview mit Dr. Hans Wolter

„Wir müssen uns wieder trauen, Gesundheitsförderung und Verhältnisprävention auf die Tagesordnung zu setzen“

Was zeichnet eine klimaresiliente Stadt- und Regionalentwicklung aus? Welche Unterstützung bietet dabei das Gesunde Städte-Netzwerk? Welchen Einfluss hat die COVID-19-Pandemie? Diese Fragen beantwortet Dr. Hans Wolter, bundesweiter Koordinator des Gesunde Städte-Netzwerks.

Porträt Dr. Hans Wolter
© Gesunde Städte-Sekretariat

 

Wo kann eine gesundheitsfördernde Stadtentwicklung ansetzen, um die gesundheitlichen Folgen der Klimaerwärmung auf die Gesundheit der Bewohnerinnen und Bewohner einer Stadt zu minimieren? Wo wurden bereits erfolgreiche Strategien entwickelt?

In der Stadt- und Regionalentwicklung werden seit über zehn Jahren mit sehr viel Engagement auf fachlicher und bürgerschaftlicher Ebene kommunale Klimaschutzkonzepte entwickelt. Beispielsweise in Berlin, Frankfurt am Main, Dresden, Heidelberg, München und Münster. Aber nicht nur in Großstädten, sondern ebenso in mittleren Städten wie Rheine und im ländlichen Raum wie in den Kreisen Marburg-Biedenkopf und Paderborn und in der GesundRegion Wümme-Wieste-Niederung in Norddeutschland. Allesamt sind dies Mitglieder des Gesunde Städte-Netzwerkes.

Kommunen, Städte und Kreise sind sehr wichtige Vorbereiter und Organisatoren für Energieeinsparung, Co2-freie Energieerzeugung, faire Mobilitätskonzepte, den Erhalt der Biodiversität und einer regional basierten Ernährungsweise. Daran setzen Stadt- und Kreisentwicklung an. Oft erfolgreich, weil sie am ehesten in der Lage sind, Hand in Hand mit Initiativen und freiwillig engagierten Bürgerinnen und Bürgern auch kleinteilige, aber hocheffektive Maßnahmen in den genannten Bereichen für ein besseres Klima zu ergreifen.


Gibt es hemmende Faktoren?

Die gesundheitlichen Auswirkungen der globalen Erwärmung konnten bisher nicht ausreichend berücksichtigt werden. Dafür fehlen Erkenntnisse und eingeübte Verhaltensweisen auch bei kommunalen Fachleuten, um die Frage zu beantworten, wie mit den Zielkonflikten zwischen Gesundheit einerseits und ökonomisch und technisch effizienten Entwicklungen andererseits bei der Implementierung der Pläne umzugehen ist. Die Gretchenfrage lautet: Wie gut arbeiten Fachverwaltungen und Gesundheitsexperten und Gesundheitsexpertinnen zusammen?


Wie unterscheiden sich die Ansätze für den städtischen und ländlichen Raum?

Während in städtischen Räumen bei dem Trend zu mehr innerörtlicher Verdichtung die Einschränkungen in der Durchlüftung ganzer Stadtviertel sowie eine hohe Luftverschmutzung, Lärm und andere Faktoren begünstigt werden können, werden im ländlichen Raum andere Stressoren sichtbar, die Gesundheit und Klima belasten: Die Methoden industrieller Landwirtschaft können Biodiversität, Boden- und Wasserqualität massiv gefährden. Der hauptsächlich auf den individuellen Kraftfahrzeugbetrieb abgestellte Verkehr erlaubt keine lebenslagengerechte Mobilität von alten und sehr jungen Menschen.

Im ländlichen Raum sind die Abwanderung und der Verlust von sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und nicht zuletzt gesundheitlichen Versorgungsstrukturen ein großes Thema. In den Städten sind es Luft, Lärm, Verkehrs- und Bebauungsdichte und in der jüngeren Vergangenheit die Hitzewellen ohne ausreichenden Schutz durch Grün und Bäume.

Deshalb werden Gesundheitsversorgung und die Lebensqualität von Ortsansässigen sowie Pendelnden zum Anknüpfungspunkt von Präventions- und Gesundheitsförderungskonferenzen in den Kreisen. Es entstehen gemeindenahe Initiativen für sozialen Zusammenhalt und Selbsthilfe in den verschiedenen Lebenslagen. Im Zusammenhang mit der Klimaerwärmung sind zum Beispiel Biodiversitätsinitiativen, bekannt unter dem Namen „Kommunen für biologische Vielfalt“, entstanden, die einen Handlungsdruck über die Kommunen hinaus erzeugen.

Die Trennung zwischen Stadt und Land ist immer bedeutungsvoller geworden für die Gesundheit. Im Gesunde Städte-Netzwerk leisten wir ein Beitrag dafür, dass die Menschen in Stadt und Land mehr darüber lernen, mit welchen Herausforderungen die jeweils anderen zu tun haben.


Welche Personengruppe trifft die Klimaerwärmung in Deutschland am härtesten? Wie kann hier präventiv und gesundheitsförderlich gearbeitet werden?

Die Maßnahmen zum Schutz älterer Menschen gehören spätestens seit dem Auftreten verheerender Hitzewellen seit dem Jahr 2003 zum Regelkanon der gesundheitlichen Information der Gesundheitsämter. Von Bedeutung dabei ist insbesondere eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit Umwelt- und Verbraucherschutzämtern, Einrichtungen der Altenpflege und Altenbetreuung, Stadtwerken sowie Vereinen. Hitzeschutzmaßnahmen und Hitzeaktionspläne gibt es beispielsweise in Stuttgart, München, Köln und – um den Blick über den Kirchturm hinaus zu richten – in Wien, Mitglied des Gesunde Städte-Netzwerks in Österreich.

Dasselbe gilt im Hinblick auf die Lebenssituation der Kinder. Die Belastung ihrer Gesundheit durch die Folgen des Klimawandels ist an sich seit langem gut bekannt. Zunahme von Hitze, UV-Strahlung, Luftschadstoffen und eine längere und veränderte Pollensaison sind ernste Belastungen für die kindliche Entwicklung. Zahlreiche Projekte und Maßnahmen von Kitas und Grundschulen zeugen davon, dass die Probleme erkannt und Hilfen angeboten werden.


Was können Städte, Kreise und Gemeinden außerdem tun?

Sie können eine zielgerichtete Öffentlichkeitsarbeit machen, um die Aufmerksamkeit für Gefährdungen zu erhöhen. Es sind die Kommunen, die eine gesundheitsfördernde Multiplikatorenarbeit von Fachkräften, aber auch von engagierten Laien in Vereinen und Initiativen organisieren können. Auf diese Weise wird die Gesundheitskompetenz in unterschiedlichen Alltags- und Lebenssituationen wirkungsvoll unterstützt. Unsere Erwartung dabei ist, dass durch die Beteiligung der Menschen auch eine Veränderung der Umwelt-, Wohn- und Verkehrsverhältnisse in Quartieren und Gemeinden gefördert werden kann. Die Hoffnung dabei ist, dass über die Verbesserung der Verhaltensprävention auch eine Veränderung der Umwelt-, Wohn- und Verkehrsverhältnisse in Quartieren und Gemeinden gefördert werden kann.

Wichtig war und ist, dass kommunale Gemeinschaftsinitiativen entstehen, die in die Lebenswelten hineinwirken können. Bundesweite Kampagnen helfen nur bedingt. Beispielsweise sind die Konzepte des Umweltbundesamtes unter dem Gesichtspunkt der Gesundheitsförderung und Verhältnisprävention sehr gut, benötigen aber eine effiziente Umsetzung in jedem der 16 Bundesländer.


Welchen Beitrag leistet das Gesunde Städte-Netzwerk?

Das Gesunde Städte-Netzwerk versucht seine Mitglieder über die bundesweiten Fachdiskussionen und Empfehlungen zur Klimaerwärmung bestmöglich zu informieren. Zudem setzen wir auf eine gute Gesundheitskommunikation zwischen Experten und Laien auch vor Ort. Wichtig ist dabei vor allem eine nachhaltige, also eine verhältnisgestützte Verhaltensprävention. Die Pandemie derzeit zeigt die Notwendigkeit dafür sehr deutlich.

Das Gesunde Städte-Netzwerk ist Teil der europaweiten Healthy Cities-Bewegung, die durch die Weltgesundheitsorganisation initiiert wurde. Das Netzwerk versteht sich selbst als strategische Lernplattform zur Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung. Es will einen verständlichen und glaubwürdigen Beitrag zum kommunalen Strukturaufbau in Sachen Gesundheit und Lebensqualität leisten. Kommunale Akteure gewinnen hier Kompetenzen und Vergleichsmöglichkeiten mit anderen Kommunen.

Dazu passt übrigens, dass das Gesunde Städte-Netzwerk unabhängig arbeitet, also ohne Bundes- und Landeszuschüsse. Es finanziert sich ausschließlich aus den jährlichen Dienstleistungspauschalen der Mitgliedskommunen. Aktionsfähig wird es durch die Bereitstellung personeller Ressourcen, die ebenfalls von den Mitgliedskommunen kommen. Dazu gehören insbesondere die Gesunde Städte-Koordinatorinnen und -Koordinatoren jeder Kommune, das derzeit von der Stadt Frankfurt am Main gestellte Gesunde Städte-Sekretariat, die kommunalen Kompetenzzentren in acht Städten und fünf regionale Netzwerke.


Welche Themen stehen aktuell im Fokus?

Die Vielzahl der Gesundheitsförderungsthemen in den 88 Mitgliedskommunen macht immer wieder eine fachpolitische Standortbestimmung erforderlich. Aktuell ist das die Fokussierung auf die Folgen der globalen Erwärmung für Gesundheit und Lebensqualität. Gute Praxisbeispiele wie Klimaschutzkonzepte und Hitzeaktionspläne der einzelnen Kommunen werden im Netzwerk kommuniziert und inhaltliche Positionen für Stellungnahmen auf Bundes- und Landesebene formuliert.

Das Besondere am Gesunde Städte-Netzwerk ist, dass über die Mitgliedskommunen lokale Gesundheitsinitiativen und Selbsthilfegruppen im Leitungsgremium, dem sogenannten Sprecherinnen und Sprecherrat, und bei den Mitgliederversammlungen paritätisch vertreten sind. Damit lässt sich eher Anschluss gewinnen an den Bewusstseinswandel in der ganzen Gesellschaft, der sich durch die Klimaerwärmung beschleunigt hat.

Bei vielen Bürgerinnen und Bürgern hat das Wissen um die gesundheitlichen Auswirkungen des eigenen Lebensstils, aber auch um die Gefahren durch menschliche Eingriffe in die Natur deutlich zugenommen. Wir sehen das am Entstehen der Netzwerke zur Ernährungs- und Agrarwende in Städten, sogenannte Ernährungsräte, ebenso wie an den Demonstrationen von Fridays for future und vielen freiwilligen Initiativen für mehr Zusammenhalt und Mobilität in kleineren Gemeinden, mit denen das Gesunde Städte-Netzwerk und seine Mitgliedskommunen kooperieren.


Im Zusammenhang mit Krisen wird auch oft von einem „Window of Opportunity“ gesprochen: Bietet die Corona-Pandemie eine Chance für eine gesundheitsförderliche Stadt- und Quartiersentwicklung?

Es bieten sich dann Chancen, wenn der Blick für Benachteiligungen ganzer Bevölkerungsgruppen geschärft wird. Das ist nach meinem Eindruck aktuell auch der Fall.

Denn die Verbesserung der Wohn-, Lebens- und Ernährungsbedingungen – wie beispielsweise der Beschäftigten im Niedriglohnsektor, älteren Menschen mit Pflegebedarf und Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen, Geflüchteten und Wohnungslosen – ist nach allen Erkenntnissen der Coronakrise ein effektiver Infektionsschutz und nicht die Bemühungen um individuelle Gesundheitskompetenzen. Darauf können Stadt- und Quartiersentwicklung bei Planungen in Zukunft hinweisen.

Zu erwarten ist dann auch, dass sozialräumliche Strategien in Settings für Gesundheitsförderung und Verhältnisprävention von Stadtentwicklern und Stadtplanern schneller verstanden und angewendet werden können und auch als Unterstützung für eigenes fachliches Handeln begriffen werden.

Voraussetzung ist, dass Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft ein gemeinsames Interesse dafür entwickeln, bereichsübergreifende Strukturen und Verhaltensweisen zuzulassen. Insbesondere müssen alle wieder lernen, sich zu trauen, Gesundheitsförderung und Verhältnisprävention auf die Tagesordnung zu setzen!


Die Fragen stellten Linda Arzberger und Ulrike Meyer-Funke, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V.


Lesen Sie dazu auch:

Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt Health in All Policies, Interview mit Prof. Dr. Ilona Kickbusch.

Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt Gesundheitliche Chancengleichheit. Interview mit Stefan Bräunling, Leiter der Geschäftsstelle des Kooperationsverbundes Gesundheitliche Chancengleichheit.

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Dr. Hans Wolter | Politikwissenschaftler; bundesweiter Koordinator des Gesunde Städte-Netzwerks seit 2015; Mitarbeiter der Stadt Frankfurt am Main seit 1991; Mitglied des bundesweiten Arbeitskreises Migration und öffentliche Gesundheit; Mitglied des Beirats des nationalen Forschungsverbundes PartKommPlus. Arbeitsschwerpunkte: Kommunalpolitik, interkulturelle Gesundheitsförderung, kommunale Unterstützung sozialer Selbsthilfeformen; öffentlicher Gesundheitsdienst.

Die Wurzeln des Gesunde Städte-Netzwerks (GSN) liegen in der Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung. Das Netzwerk wurde 1989 in Frankfurt am Main von zehn Gründungsstädten und einem Kreis offiziell ins Leben gerufen. Heute gehören dem Netzwerk 88 Städte, Kreise und Gemeinden mit einer Bevölkerung von über 24 Millionen Menschen. Für die Zugehörigkeit zum Netzwerk ist ein formaler Beschluss der jeweiligen kommunalen Volksvertretung erforderlich. Dieser umfasst auch die Zustimmung zum 9-Punkte-Programm des GSN und den Zielen der WHO für Gesunde Städte-Politik (PDF).