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BVPG-Vorstand Prof. Dr. Ulrich Reininghaus

„Psychische Gesundheit evidenzbasiert und chancengerecht stärken”

Die psychische Gesundheit der Bevölkerung hat sich in den vergangenen Jahren deutlich verschlechtert. Für einen evidenzbasierten Mental Health in and for All Policies-Ansatz, der die gesundheitlichen Ungleichheiten nicht weiter verschärft, plädiert BVPG-Vorstand Prof. Dr. Ulrich Reininghaus, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit.

Porträt Prof. Dr. Ulrich Reininghaus
© Tom Maelsa/tommaelsa.com

 

Die multiplen Krisen und gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahre hinterlassen deutliche Spuren in der psychischen Verfasstheit der Bevölkerung. Konkret scheinen insbesondere die Digitalisierung, Klimakrise, die COVID-19 Pandemie, Migration, Krieg und Vertreibung zu erheblichen Veränderungen der psychischen Gesundheit auf Bevölkerungsebene beizutragen.


Deutliche Verschlechterung der psychischen Gesundheit – besonders betroffen sind Menschen mit geringerem sozio-ökonomischen Status

So zeigen die Daten der Mental Health Surveillance des Robert-Koch-Instituts (RKI) eine deutliche Verschlechterung der psychischen Gesundheit in der deutschen Bevölkerung seit dem Jahr 2019 - ein Befund, der mit der derzeitigen Evidenz aus anderen Studien im Bereich der öffentlichen psychischen Gesundheit (Public Mental Health) konsistent ist und sich mit der zunehmend kritischen Situation in der psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung deckt. Dabei sind Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene sowie Menschen mit geringerem sozio-ökonomischen Status besonders betroffen. Diese Befundlage könnte ein Marker für Veränderungen in der Bevölkerungsgesundheit sein, die auch zur derzeitigen Bedrohung, wenn nicht sogar Krise, unserer Demokratie beitragen. Sie ist eine zentrale Herausforderung dieser Zeit und bedarf dringender Anstrengungen in Politik, Forschung und Praxis.


Voraussetzungen für einen evidenzbasierten Mental Health in and for All Policies (MHiAP)-Ansatz schaffen

Die derzeitigen Veränderungen im Bereich der bevölkerungsbasierten psychischen Gesundheit zeigen nachdrücklich auf, dass wir endlich beginnen müssen, die Folgen von gesellschaftlichen Entwicklungen und politischen Entscheidungen auch für die psychische Gesundheit in allen Politikbereichen und gesellschaftlichen Handlungsfeldern zu berücksichtigen. Sie erfordern einen Mental Health in and for All Policies (MHiAP)-Ansatz, der evidenzbasiert und chancengerecht ist. Aber was heißt das konkret?

Zunächst benötigen wir dringend nicht nur eine Fortführung, sondern vielmehr einen weiteren Ausbau der Mental Health Surveillance des RKI sowie zusätzliche epidemiologische Studien, die Veränderungen im gesamten Spektrum der psychischen Gesundheit – von Indikatoren des psychischen Wohlbefindens, der Lebensqualität und positiven psychischen Gesundheit über frühe Risikostadien bis hin zu inzidenten und prävalenten Fällen von schweren psychischen Erkrankungen – über die Zeit abbilden. Hier fehlen wichtige Daten. Zum Beispiel wurde in Deutschland seit mehr als 20 Jahren keine Inzidenzstudie im Bereich von schweren psychischen Erkrankungen durchgeführt. Inzidenzdaten sind jedoch von zentraler Bedeutung für die veränderungssensitive Beurteilung der Wirksamkeit von populationsbasierten Maßnahmen zur Primärprävention von psychischen (Neu-)Erkrankungen. Ebenso müssen Indikatoren des psychischen Wohlbefindens, der Lebensqualität und positiven psychischen Gesundheit noch umfassender abgebildet werden, um eine Evidenzbasierung von Maßnahmen zur psychischen Gesundheitsförderung auf Bevölkerungsebene zu gewährleisten.

Psychische Gesundheit ist mehr als die Abwesenheit von Psychopathologie – das ist nicht nur in der Definition des Begriffs durch die Weltgesundheitsorganisation verankert, sondern entspricht auch der Evidenz aus taxometrischen Studien zur kontinuierlichen Verteilung von psychischer Gesundheit und Erkrankung als quantitative Variationen entlang eines Kontinuums. Nur auf der Grundlage einer umfassenden Surveillance und Berichterstattung des gesamten Spektrums der psychischen Gesundheit können die Folgen von gesellschaftlichen Entwicklungen und politischen Entscheidungen für die psychische Gesundheit im Sinne eines MHiAP-Ansatzes u. a. in Gesundheitsfolgenabschätzungen, wie im Blog-Beitrag von BVPG-Vorständin Professorin Dagmar Starke erläutert, evidenzbasiert bewertet werden.


Maßnahmen zur Verbesserung der psychischen Gesundheit auf Bevölkerungsebene unter Berücksichtigung der gesundheitlichen Chancengerechtigkeit

Die Entwicklung, Evaluation und Implementierung von populationsbasierten Maßnahmen zur Verbesserung der psychischen Gesundheit ist eine weitere wichtige Voraussetzung für die Umsetzung eines evidenzbasierten MHiAP-Ansatzes. Populationsbasierte Strategien berücksichtigen in der Regel die Verteilung von Risiken und Gesundheit in der gesamten Bevölkerung und möchten eine Verschiebung dieser Verteilung (ein „Shifting the Curve") hin zu einer verbesserten psychischen Gesundheit erzielen. Dabei gibt es aus Sicht der Public Mental Health immer noch Bedenken, dass populationsbasierte Strategien gesundheitliche Ungleichheiten unbeabsichtigt verstärken können, weil marginalisierte Gruppen, die aufgrund von geteilten sozialen Charakteristiken bereits ohnehin ein höheres Risiko aufweisen eine Exposition gegenüber Gesundheitsrisiken zu erfahren, ungleich weniger von diesen Maßnahmen profitieren könnten. Während die Daten der Mental Health Surveillance bspw. zeigen, dass Menschen mit geringerem Bildungsstand stärker von der Zunahme der psychischen Belastung der letzten Jahre betroffen sind, ist direkte und belastbare Evidenz zu den nicht intendierten Wirkungen von populationsbasierten Maßnahmen zur Verbesserung der psychischen Gesundheit noch sehr begrenzt. Es bedarf somit qualitativ hochwertiger, populationsbasierter Forschung, die eine robuste Untersuchung der (nicht intendierten) Verstärkung von gesundheitlichen Ungleichheiten durch populationsbasierte Maßnahmen ermöglicht, wie sie in der Public Mental Health angestrebt wird.
Zudem müssen bereits in der Entwicklung von populationsbasierten Maßnahmen wichtige Grundsätze und Prinzipien befolgt werden, um eine potentielle Verstärkung von gesundheitlichen Ungleichheiten zu vermeiden. Ein wichtiger Ansatzpunkt dafür ist die Beteiligung von (marginalisierten) Ziel- bzw. vielmehr Dialogpopulationen an der Entwicklung von gesundheitsfördernden und präventiven Maßnahmen sowie an deren Evaluation (durch Co-Design und Co-Production) in partizipativen Forschungsansätzen. Aber auch Maßnahmen, deren Ziel die Modifikation von kumulativen Risiken und deren Intersektionalität bei marginalisierten Gruppen ist, stellen einen wichtigen Ansatzpunkt dar.

Dies gilt ebenso für eine genuin intersektorale Vorgehensweise, die die fundamentalen Ursachen gesundheitlicher Ungleichheiten nicht auf den Sektor der Gesundheitsversorgung beschränkt betrachtet, sondern mit anderen Sektoren das Ziel der gesundheitlichen Chancengerechtigkeit unter Beteiligung von Stakeholdern aus allen Sektoren im Sinne des MHiAP-Ansatzes verfolgt. Eine solche intersektorale Vorgehensweise sollte zugleich Aspekte der Implementierung und Verstetigung evidenzbasierter Maßnahmen zentral berücksichtigen, um diese in die Praxis zu transferieren und deren Skalierbarkeit von evidenzbasierten Maßnahmen für eine hohe Anzahl an Nutzerinnen und Nutzer ebenso wie deren Aufnahme und Akzeptanz durch Professionelle im Gesundheits- und Sozialsystem zu gewährleisten.

Verhältnispräventive Maßnahmen, die an den Lebenswelten ansetzen, die das Risiko der Exposition gegenüber Risikofaktoren insbesondere von marginalisierten Populationen erhöhen, müssen dabei ebenfalls eine wichtige Rolle spielen. Dadurch können wir den fundamentalen Ursachen von gesundheitlichen Ungleichheiten direkt im Alltag begegnen, in dem sich auch die psychische Gesundheit konstituiert – wie im Blog-Beitrag von BVPG-Präsidentin Dr. Kirsten Kappert-Gonther MdB benannt – und somit gesundheitliche Chancengerechtigkeit im Bereich der öffentlichen psychischen Gesundheit nachhaltig stärken. Dafür benötigen wir dringend nachhaltige Gesundheitsziele (im Sinne der „Sustainable Development Goals” (SDG) der Vereinten Nationen), die auch in Bezug auf die psychische Gesundheit formuliert und als Querschnittsanliegen in alle relevanten Politikbereiche und gesellschaftliche Handlungsfelder eingebracht werden, um die alltäglichen Lebenswelten gesund und gerecht zu gestalten. Zudem bedarf es Gesundheitsfolgenabschätzungen zur Beurteilung von politischem Handeln und geplanten Gesetzesvorhaben, die die gesundheitliche Chancengerechtigkeit auch in Bezug auf die psychische Gesundheit berücksichtigen.


BVPG: Brückeninstanz auch in der Public Mental Health

Die umfassende Implementierung eines evidenzbasierten MHiAP-Ansatzes bleibt somit eine zentrale Herausforderung, die dringend der Koordination und Vernetzung durch die BVPG in ihrer Rolle als Brückeninstanz auch im Bereich der Public Mental Health bedarf. Die BVPG kann und muss hier ihre intersektorale, interdisziplinäre und interprofessionelle Expertise einbringen, um den Evidenz-Praxis-Transfer insbesondere von auf gesundheitliche Chancengerechtigkeit ausgerichteten, verhältnispräventiven Ansätzen in die Lebenswelten bzw. in die Regionen im Sinne einer Flächenverankerung zu unterstützen. Die BVPG kann dabei entscheidend zur Vernetzung von relevanten Akteuren und Bündelung von Ressourcen auf lokaler, kommunaler, Landes- und Bundesebene beitragen, um eine langfristige Verstetigung evidenzbasierter Maßnahmen zu verfolgen. Anstrengungen in Politik, Forschung und Praxis, die diese Herausforderung der Implementierung eines evidenzbasierten MHiAP-Ansatzes annehmen, nachhaltige Gesundheitsziele formulieren und Gesundheitsfolgenabschätzungen in diesem Sinne vornehmen, versprechen eine tatsächliche Verbesserung der psychischen Gesundheit auf Bevölkerungsebene wahrscheinlicher werden zu lassen. Es ist jetzt die Zeit sich für die Verbesserung der psychischen Gesundheit auf Bevölkerungsebene einzusetzen - und ohne die gesundheitlichen Ungleichheiten zu verschärfen!


Prof. Dr. Ulrich Reininghaus | Seit 2018 Heisenberg-Professor und Leiter der Abteilung Public Mental Health am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) in Mannheim und Gastprofessor am ESRC Centre for Society and Mental Health, King's College London; davor Associate Professor an der School for Mental Health and Neuroscience der Universität Maastricht. 2011 Promotion an der Queen Mary University of London, danach Ausbildung als Postdoc am Department of Psychiatry der University of Cambridge sowie am Centre for Epidemiology and Public Health, King's College London. Ulrich Reininghaus hat für seine Arbeit mehrere kompetitive Fellowships und Preise erhalten (von NIHR, NWO, DFG, DGPPN). Hauptforschungsinteresse: Transfer von innovativen, evidenzbasierten Interventionen zur Förderung der psychischen Gesundheit sowie Prävention und psychosozialen Versorgung von psychischen Erkrankungen in die Lebenswelten sowie deren Akzeptanz, Skalierbarkeit und Nachhaltigkeit, insbesondere bei vulnerablen Gruppen, um gesundheitliche Ungleichheiten zu verringern.